Seit Dienstag ist der Initiativtext der «Haftungsinitiative» von Anita Chaaban, Begründerin der 2004 angenommenen Verwahrungsinitiative, öffentlich einsehbar: Richter und Gutachter sollen für rückfällige Straftäter haften, indem sie Opfern oder Angehörigen eine Entschädigung zahlen und ihres Amts enthoben werden. Was würde das für einen Gutachter bedeuten? watson sprach mit Forensiker und Gerichts-Psychiater Thomas Knecht.
Herr Knecht, die Haftungsinitiative zielt auch auf Gutachter wie Sie ab. Was halten Sie davon?
Ich kann dieser Initiative nichts abgewinnen.
Was kritisieren Sie genau?
Der Gutachter hat kein Instrument, Straftaten vorherzusehen. Die Rückfallquote bei schweren Straftaten ist sehr klein. Bei Mord und Totschlag liegt sie zwischen 0 bis 3 Prozent. Welcher von hundert Entlassenen also jener eine ist, der rückfällig wird, ist unmöglich vorherzusagen.
Wie würde sich Ihre Aufgabe bei Annahme der Initiative verändern?
Der Gutachter ist ein Experte, welcher der Justiz unparteiisch seine Fachkenntnisse zur Verfügung stellt. Er darf weder von der Anklage noch von der Verteidigung für deren Zwecke instrumentalisiert werden. Eine Haftungsandrohung wie sie Frau Chaaban will, stellt beinahe eine Nötigung dar, das Gutachten zu Ungunsten des Angeklagten zu verfassen. Damit würde man die Expertenrolle verlassen und zum Erfüllungsgehilfen der Strafverfolgung.
Das wären Zustände wie in den USA ...
Ja, dort haben Anklage und Verteidigung je ihren eigenen Gutachter, der den Angeklagten für seine Zwecke karikiert. Das entspricht nicht unserem Rechtssystem und das brauchen wir hier nicht.
Die Gerichte hier sind ohnehin frei, das Gutachten des Experten zu ignorieren.
Tatsächlich erlebe ich immer wieder, dass sich das Gericht überhaupt nicht an meine Empfehlungen hält, sondern juristische Argumente höher gewichtet.
Was halten Sie von der Forderung, der Opfern oder Angehörigen Anspruch auf eine Entschädigung einräumt? Es steht ja nicht, dass die Entschädigung aus der Tasche des Richters oder Gutachters zu bezahlen wäre.
Dann wäre es ein Angriff auf den Geldbeutel des Steuerzahlers. Wobei zu befürchten ist, dass künftige Arbeitsverträge die Möglichkeit eines Regresses enthalten würden, ähnlich wie in den Spitälern: Sobald etwas als fahrlässig oder gar grobfahrlässig eingestuft wird, kann trotzdem der Einzelne haftbar gemacht werden.
Verstehen Sie das Gefühl der Ohnmacht, das die Initianten offenbar antreibt?
Richter und Gutachter sind an geltendes Recht gebunden. Wenn jemand seine Strafe verbüsst hat, dann muss man ihn freilassen. Manchmal gebietet der Rechtsstaat, dass jemand auf freien Fuss kommt, auch wenn begründete Bedenken bestehen. Im Übrigen: Konsequenterweise müsste man auch jene Justizirrtümer ahnden, wo Unschuldige zu Unrecht eingesperrt wurden. Aber diese berücksichtigt die Initiative nicht.