Schweiz
Asylgesetz

Reporter Shams ul-Haq undercover im Asylzentrum Kreuzlingen

Undercover im Asylzentrum: Reporter berichtet von Zynismus, Islamismus und Gewalt

Der deutsch-pakistanische Journalist und Terrorismus-Experte Shams ul-Haq hat fünf Tage undercover im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Kreuzlingen verbracht. Er liefert einen Einblick ins Schweizer Asylwesen, der Aussenstehenden bislang verwehrt war. Und er zeigt Missstände auf.
17.01.2016, 04:2917.01.2016, 15:26
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Hier beginnt ul-Shaks Undercover-Reise: Grenzort Kreuzlingen.
Hier beginnt ul-Shaks Undercover-Reise: Grenzort Kreuzlingen.
Bild: EPA/DPA

Am Samstagnachmittag, 9. Januar, schleust sich Shams ul-Haq ins Schweizer Asylwesen ein. Als verdeckter Reporter trifft er aus Deutschland am Bahnhof Kreuzlingen TG ein und fragt Grenzbeamte auf Englisch nach dem Weg zum Asylzentrum. «Ach du Scheisse. Noch so einer», lautete dessen Antwort, schreibt ul-Haq in einer Reportage, die von der SonntagsZeitung veröffentlicht wurde.

«Das ist ein Souvenir von mir für dich.»
Beamter zu Shams ul-Haq

Zynismus muss ul-Haq während seines viertägigen Undercover-Einsatzes in der Schweiz wiederholt erfahren:

  • Ein Grenzbeamter sagt zu ihm, nachdem er Pakistan als Heimatland angegeben hat: «Pakistan hat kein Asylrecht in der Schweiz. Du wirst sehen, dass du innerhalb von vier Wochen abgeschoben wirst, und wir bezahlen deinen Aufenthalt hier mit unseren Steuern.»
  • Ul-Haq berichtet, er habe sich bei der Ankunft komplett entkleiden müssen. Als er fragte, ob er auch die Unterhosen ausziehen müsse, habe der Beamte gelacht und gesagt: «Ja, auch die.»
  • Das Armband mit der 11-stelligen Nummer zur Identifikation erhielt er mit der Bemerkung: «Das ist ein Souvenir von mir für dich.»
Das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Kreuzlingen.
Das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Kreuzlingen.
Bild: KEYSTONE

Von der Grenze geht's für «Jamal», so das Pseudonym ul-Haqs, ins EVZ Kreuzlingen. Einen Sicherheitsbeamten weiht er kurz darauf in seine geheime Mission ein, da ihm dieser zuvor anvertraut hat, dass er seinen Job gekündigt habe, «weil er es für unmenschlich halte, was hier gemacht werde». Und bald sollte «Jamal» am eigenen Leibe erfahren, was dieser damit gemeint haben könnte:

  • Als ul-Haq einen Schweizer Sicherheitsbeamten provozierte, indem er sagte, Deutschland sei viel besser als die Schweiz, habe dieser ihm «das kleine Kontrollfenster am Empfang auf den Nacken niedersausen» lassen.
  • Am Montag beobachtet ul-Haq eine Auseinandersetzung zwischen einem Sicherheitsbeamten und einem Flüchtling. «Ich sehe, wie der Beamte ihm zwei Ohrfeigen verpasst und ihn schubst.» Offenbar habe der Asylsuchende nicht auf das Rufen des Mannes reagiert.
  • Ein Sicherheitsbeamter habe einen betrunkenen Flüchtling zwei-, dreimal ins Gesicht geschlagen, danach sei er aus dem Flüchtlingsheim geworfen worden. 
  • Ul-Haq zitiert zudem Berichte, wonach ein Flüchtling von Beamten krankenhausreif geschlagen worden sei. Der habe Anzeige erstattet, aber es sei nichts passiert.
  • Ein anderes Problem sei das Schlafen im Bunker: Ul-Haq, der bereits mehrere Flüchtlingsheime in Europa besucht hat, zeigte sich schockiert darüber, dass Asylsuchende «in einem Kriegsbunker» übernachten müssten.
  • Kritik übt er auch am Handyverbot im Zentrum: «Die Asylsuchenden empfinden es als grosses Problem, dass sie nicht zu Hause anrufen können, um den Verwandten mitzuteilen, dass sie noch am Leben sind», schreibt ul-Haq.
  • Sicherheitskräfte hätten die Asylsuchenden beim Transport von einem Standort zum anderen in einen Bus gedrückt, obwohl nicht alle hineingepasst hätten.
  • «Pünktlich wie beim Militär» müssten die Asylsuchenden ins Bett. «Wenn einer sich verspätet, wird er angeschrien», schreibt ul-Haq.
  • Als ul-Haq am fünften Tag das Camp verlassen will, sagt er einem Sicherheitsbeamten, er wolle nach Deutschland. «Und tatsächlich: Gegen Mittag darf ich das Camp verlassen.» Insgesamt hätten mit ihm an diesem Tage sechs Personen das Flüchtlingslager verlassen. Einer habe ihm angeboten, bei Drogengeschäften mitzumachen.
  • Flüchtlinge würden Asylverfahren abbrechen – um dann Drogen zu schmuggeln.
«Ich sehe, wie der Beamte ihm zwei Ohrfeigen verpasst und ihn schubst.»
Shams ul-Haq
SEM: Keine Hinweise
Die «SonntagsZeitung» sieht aufgrund der Schilderungen Schengen-Bestimmungen durch die Schweiz verletzt, weil «Jamal» sich als Pakistaner nicht frei in Europa bewegen dürfte. Mit den beschriebenen Zuständen konfrontiert, antwortet das Staatssekretariat für Migration (SEM) laut der Zeitung, die Schweiz wende die Dublin Regeln konsequent an. «Wenn jemand beabsichtigt auszureisen, hat er das Asylgesuch formell zurückzuziehen und die Behörden um die Organisation der Ausreise zu bitten», wird SEM-Sprechern Gaby Szöllösy zitiert. Laut Asylgesetz müsste sich die Person zur Verfügung halten. Auf die erwähnten Vorwürfe wegen Gewalt seitens der Sicherheitsbeamten habe man keine Hinweise, sagte Szöllösy.

Ul-Haq erwähnt in seinem Bericht auch Lichtblicke und positive Erfahrungen während seines Aufenthalts in Kreuzlingen.

  • «Mittags werde ich positiv überrascht», notiert er am zweiten Tag. «So ein gutes Mittagessen hatte ich bis dahin noch in keinem Asylheim.»
  • Im Hof vor dem Heim stehen ein Tischtennis- und Tischfussball-Tisch.
  • Zur Abnahme der Fingerabdrücke notiert ul-Haq: «Zwei sehr freundliche Frauen machen das.»
  • Neben der Küche gibt es ein Radio mit Musik aus der Heimat.
  • Weiter lobt ul-Haq das schwarze Brett mit Zeichnungen der Flüchtlinge, die mit dieser Tätigkeit Stress abbauen können.
  • Positiv registriert er die Cafeteria Mama Afrika in Kreuzlingen, wo es Gratis-Getränke für Asylsuchende und billiges Internet gibt. «Eine solch tolle Einrichtung habe ich in Deutschland nie gesehen.»
Verschwörungstheorien wie sie laut ul-Haq auch in Kreuzlingen zu hören sind, bereiten Terrororganisationen wie dem sogenannten «IS» den Boden.
Verschwörungstheorien wie sie laut ul-Haq auch in Kreuzlingen zu hören sind, bereiten Terrororganisationen wie dem sogenannten «IS» den Boden.
Bild: STRINGER/REUTERS

Fanatismus und Islamismus seien allerdings in den Unterkünften ein Problem. In seiner kurzen Zeit in Kreuzlingen sei ihm ein Mann aufgefallen, «von dem ich aufgrund des Verhaltens sagen kann, dass er entweder früher einmal für eine terroristische Organisation gearbeitet hat oder gar hier als aktives Mitglied untergetaucht ist», schreibt ul-Haq. Folgende Verbesserungen empfiehlt der Terrorismus-Experte:

  • Syrische und irakische Flüchtlinge sofort nach der Ankunft trennen, um Konfliktpotenzial abzubauen
  • Geheimdienste des betreffenden Landes innerhalb von ein bis zwei Tagen kontaktieren, um herauszufinden, ob jemand als Krieger oder Terrorist aufgefallen ist
  • Gebetsraum einrichten – ein solcher fehlt zurzeit
  • Mehr Sozialarbeiter – zurzeit sind 20 Prozent Betreuer, der Rest Sicherheitspersonal
  • «Ich muss betonen, es gibt auch sehr nette Schweizer Sicherheitsbeamte, aber diese haben leider keinen Einfluss auf die schlechten, brutalen Vorgehensweisen ihrer Kollegen», zieht ul-Haq Bilanz.
Für die «SonntagsZeitung» undercover unterwegs: Journalist Shams ul-Haq.
Für die «SonntagsZeitung» undercover unterwegs: Journalist Shams ul-Haq.
Bild: screenshot website s-haq.com

«SonntagsZeitung»-Chefredaktor Arthur Rutishauser schreibt in seinem Kommentar zur Reportage, die Redaktion habe die Fragen, die der Bericht aufwerfe, «in Bern» gestellt: «Als Antwort kamen Ausflüchte und eine unterschwellige Drohung betreffend den recherchierenden Journalisten.» (kad)

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141 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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elmono
17.01.2016 09:12registriert April 2014
Eieiei ins Bett wie im Militär. Handyverbot im Zentrum, Schlafen in einem Bunker? Eieiei unmenschliche Bedingungen. Die Schläge sind absolut zu verurteilen und müssen im idealfall Konsequenzen nach sich ziehen. Für den Rest kann ich nur den Kopf schütteln - Sozialromantik in Reinkultur. Das Ganze soll kein Hotel sein, sondern es müssen klare und strikte Regeln herrschen, hier fängt Integration bereits an!
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Gwaggli
17.01.2016 12:18registriert Januar 2016
Sehr guter Artikel, leider überrascht es mich nicht, dass die Zustände in Kreuzlingen immer noch so sind, wie sie sind.
Vor ein paar Jahren hat da mein Bruder im Sicherheitsdienst gearbeitet und musste nach gut einem Jahr damit aufhören, um nicht daran zu zerbrechen.
Damals gab es, so seine Aussage, zwei Typen von Sicherheitsdienstarbeitenden: diejenigen, die zum kalten Zyniker werden und jene, die den Stress nicht aushalten und nach kurzer Zeit wieder gehen.
Das Sicherheitspersonal hat keine soziale Ausbildung und damit nicht das Rüstzeug um adäquat mit den täglichen Provokationen umzugehen.
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alessandro
17.01.2016 06:15registriert März 2014
wow, super einblick. scheint mir eine relativ analytische und unvoreingenommene journalistische leistung zu sein. wäre schön, wenn jetzt ein paar dinge geändert werden könnten. sowohl auf der menschlichen ebene, wie auch der stufe terrorbekämpfung und konfliktminimierung.
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