Die Schweiz geht vor. Bundesrat Ignazio Cassis trägt nicht nur gerne einen Pin mit Schweizer Kreuz am Veston. Er richtet auch die Aussenpolitik zunehmend auf die Eigeninteressen der Schweiz aus. Entwicklungshilfe soll auch der Schweiz wirtschaftlich nützen. Und ob sich die Schweiz in Ländern engagiert, soll auch davon abhängig gemacht werden, ob das Land bei der Rückschaffung von Flüchtlingen kooperiert.
Switzerland first gilt auch für sein Reiseverhalten. Cassis’ Vorgänger Didier Burkhalter war viel und gerne im Ausland unterwegs. Bilaterale Zusammenkünfte, Staatsbesuche, internationale Gipfeltreffen: Im Kontakt mit den Mächtigen der Welt fühlte sich der Neuenburger wohl. Unvergessen ist das Foto vom Weltwirtschaftsforum in Davos, als der US-Aussenminister John Kerry aus Jux Burkhalter an die Gurgel ging.
Ganz anders Cassis: Der Tessiner Bundesrat verbringt seine Zeit lieber in der Schweiz. Im ersten kompletten Jahr als Aussenminister hat er 2018 bescheidene sieben Mal das Ausland besucht. Die Differenz zu Burkhalter ist frappant: Gleich im ersten Jahr als Aussenminister reiste dieser 29 Mal ins Ausland. Auch in den Folgejahren blieb der Neuenburger in Bewegung: In keinem vollen Amtsjahr führte er weniger als 25 Besuche durch. In seinem Jahr als Bundespräsident und Vorsitzender der OSZE waren es gar 49, als es darum ging, einen offenen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu verhindern.
Das Aussendepartement findet den Vergleich mit Burkhalters Reisetätigkeit unangebracht. In seinen ersten Monaten nach dem Amtsantritt im November 2017 habe sich Cassis zuerst mit seinem Departement bekannt machen müssen, argumentiert ein Sprecher auf Anfrage. Deshalb sei er 2018 so wenig unterwegs gewesen. Allerdings: Vor derselben Herausforderung stand auch Burkhalter – gleichwohl besuchte er in seinem ersten Amtsjahr 29 Länder.
Das Aussenministerium erwähnt auch die schwierige Debatte um das Rahmenabkommen mit der EU, die Cassis im Inland gebunden hätten. Doch auch diese Erklärung befriedigt nur zum Teil. Denn die EU-Politik hielt bereits Burkhalter auf Trab, insbesondere nachdem die Schweizer Stimmbevölkerung die Masseneinwanderungsinitiative der SVP guthiess. Kommt hinzu: Gerade das Seilziehen um das Rahmenabkommen hätte Anlass für Besuche im (europäischen) Ausland sein können.
Beobachter überrascht die Reiseunlust von Cassis nicht. Denn der Tessiner Bundesrat fremdelt auffällig mit der hohen Kunst der Diplomatie. Zu abgehoben, zu formalisiert und zu festgefahren erscheint sie dem Tessiner, der aus einfachen Verhältnissen stammt. Ein «Anti-Burkhalter», ein «Undiplomat» sei Cassis, schrieb jüngst das Wirtschaftsmagazin «Bilanz». Sein Terrain sind nicht die roten Teppiche bilateraler Besuche oder die feine Konversation internationaler Konferenzen. Viel wohler fühlt sich der bodenständige Tessiner an Volksfesten, Parteianlässen und Wirtschaftstreffen. Sein viel zitiertes Motto «Aussenpolitik ist Innenpolitik» macht klar, dass er seine Hauptaufgabe im Inland sieht.
Viele in Bern gehen denn auch davon aus, dass Cassis lieber Innenminister oder Wirtschaftsminister geworden wäre. Damit hätte er sich in Milieus bewegt, die dem ehemaligen Kantonsarzt und FDP-Fraktionschef viel näher gewesen wären als die formale Welt der Diplomatie.
Bei der Linken hat Cassis seit Amtsantritt viel Kredit verloren. Die Kritik am UNO-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge sowie der unkritische Jubel nach dem Besuch einer umstrittenen Glencore-Mine in Sambia empörte viele Nichtregierungsorganisationen und Politiker. Das mangelnde Engagement im Ausland kommt ebenfalls schlecht an. «Der Job des Aussenministers ist es, die Schweiz im Ausland zu vertreten», sagt SP-Fraktionschef Roger Nordmann. «Dafür sollte sich Cassis auch die nötige Zeit nehmen.»
Nordmann räumt ein, dass sich der Erfolg eines Aussenministers auch daran bemisst, ob er im Inland Mehrheiten für seinen aussenpolitischen Kurs finden kann. Doch auch an dieser Aufgabe sei Cassis gescheitert. «Beim Rahmenabkommen hat er die Lage im Inland komplett falsch eingeschätzt», sagt Nordmann. «Da stellt sich schon die Frage, was er im vergangenen Jahr genau gemacht hat.»
Bei der SVP kommt es gut an, dass Cassis weniger auf Reisen ist als sein Vorgänger. «Der Chef muss in Bern präsent sein, um die Verwaltung eng zu führen», sagt der St.Galler SVP-Nationalrat Roland Büchel. Dem früheren Aussenminister Burkhalter wirft Büchel vor, er habe die Zügel im Inland schleifen lassen, worauf die Bundesverwaltung ein Eigenleben entwickelt habe. «Ich begrüsse es, dass Bundesrat Cassis den Mut aufbringt, die verkrusteten Strukturen der Verwaltung aufzubrechen», sagt Büchel. «Genau darum muss er in Bern und nicht in Ouagadougou präsent sein.»
Sowieso schätzt Büchel die Reisen des Bundespräsidenten und des Wirtschaftsministers wichtiger ein als jene des Aussenministers. «Die diplomatischen Beziehungen sind für die Schweiz vor allem dort wichtig, wo es um Freihandel geht», sagt Büchel.
CVP-Fraktionschef Filippo Lombardi stellt ebenfalls Unterschiede zwischen Cassis und Burkhalter fest. «Orientierte sich Burkhalter weltweit, konzentriert sich Cassis eher auf Europa», sagt der Tessiner Ständerat. Er kann Cassis’ Fokussierung aufs Inland nachvollziehen. Er sagt: «Die beste Aussenpolitik bringt nichts, wenn sie nicht im Inland abgestützt ist.» Angesichts der Wichtigkeit des Rahmenabkommens sei es sinnvoll, dass Cassis seine Zeit in die politische Überzeugungsarbeit im Inland investiere.
Lombardi sieht das Ideal der aussenpolitischen Kontakte irgendwo zwischen Burkhalter und Cassis. So oft waren auch etwa die früheren Aussenminister Micheline Calmy-Rey und Joseph Deiss unterwegs. Und auch Cassis scheint sich in diese Richtung zu bewegen. Gegenwärtig besucht er Zypern, Griechenland und die Türkei. Es sind dies die Reiseländer 14, 15 und 16 dieses Jahres. (aargauerzeitung.ch)
Diplomatie ist in jedem Feld und vieles kann nur miteinader gelöst werden, besonder in Europa.