Am 24. Juni, kurz vor der Sommerpause, kündigte Aussenminister Didier Burkhalter (FDP) für viele überraschend einen «Strategiewechsel» in der Europapolitik der Schweiz an: Neu soll ein «Chefunterhändler» alle offenen Dossiers im Verhältnis zur EU koordinieren und über sämtliche betroffenen Departemente hinweg die Fäden in der Hand behalten. Es folgten wochenlange Spekulationen, wer denn der neue Super-Diplomat sein könnte: Letzten Mittwoch lüftete Burkhalter das Geheimnis: Jacques de Watteville, bisher Staatssekretär für internationale Finanzfragen, wird «Mister Europa». So weit, so schön. Bloss: Die Geschichte ist ein gut inszenierter Bluff, wie Recherchen zeigen.
Entlarvend ist die Antwort der Regierung auf eine Interpellation von FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter vom Mai 2014. Die St.Gallerin wollte nach dem «Ja» des Stimmvolks zur Masseneinwanderungsinitiative wissen, ob nun nicht die Schaffung eines Staatssekretariats für Europafragen geprüft werden müsste, «um damit ein koordiniertes Vorgehen in der Europapolitik zu gewährleisten».
Die Antwort der Landesregierung vor gut einem Jahr fiel klar und deutlich aus: «Zur Wahrnehmung dieser Koordinationsaufgaben bestehen bereits heute die nötigen Strukturen.» Der Bundesrat habe 2013 Yves Rossier, den Staatssekretär des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), zum Verhandlungskoordinator für die mittelfristige europapolitische Strategie bestimmt. «Die Aufgabe dieses Koordinators ist es, jederzeit die Gesamtsicht über den Stand der Dossiers zu wahren, sämtliche Verhandlungen im Hinblick auf parallele Fortschritte zu koordinieren und die noch zu lösenden Fragen jedes Dossiers zu identifizieren, um zu einem koordinierten Abschluss zu gelangen.» Angesichts dieser Ausgangslage sei die Schaffung eines Staatssekretariats für Europafragen gar nicht nötig.
Damit zeigt sich, worum es beim angeblichen «Strategiewechsel» und der Inthronisierung eines neuen «Chefunterhändlers» faktisch gegangen ist: um die möglichst lautlose Kaltstellung von Yves Rossier, dem so umtriebigen wie unberechenbaren Staatssekretär im EDA. Um die Desavouierung zu kaschieren, berichtete Aussenminister Burkhalter wortreich von einer «neuen Verhandlungsstruktur» und er gab sich alle Mühe, Rossier nicht als Verlierer erscheinen zu lassen. Dabei ist offensichtlich: Rossier hatte den Rückhalt mehrerer Bundesräte verloren. Da musste ein neues Gesicht her. Gleichzeitig bot sich angesichts der schwierigen Verhandlungssituation mit der EU der Regierung die Gelegenheit, den Anschein zu erwecken, sie lasse im Ringen mit Brüssel nichts unversucht.
Für Aussenpolitiker ist indes eine andere Frage entscheidend: Wird mit der Ernennung von de Watteville nun auch das Mandat für die eingefrorenen Verhandlungen im institutionellen Bereich angepasst? Zur Erinnerung: Die Schweiz schlägt der EU vor, in Streitfällen künftig den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einzuschalten. Die Verhandlungen sind auf Eis gelegt, weil Brüssel Urteile des EuGH für verbindlich betrachtet, während Burkhalter und Yves Rossier glaubten, die Schweiz müsse sich nicht zwingend daran halten.
Bürgerliche Politiker fordern jetzt immer lauter einen Kurswechsel: «Der EuGH ist das Gericht der Gegenpartei und deshalb nicht neutral», sagt FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter. Die Schweiz müsse ihre Strategie überdenken und wieder auf den Efta-Gerichtshof setzen. Dieser überwacht die Anwendung der EWR-Binnenmarkt-Regeln in den Efta-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen. Beim Efta-Gericht besteht im Unterschied zum EuGH die Möglichkeit, selber einen Schweizer Richter zu stellen.
CVP-Präsident Christophe Darbellay kritisiert schon seit längerem die Variante EuGH. Und auch sein Parteikollege vom rechten CVP-Flügel Gerhard Pfister prophezeit: «Hält Burkhalter am EuGH fest, wird er scheitern.» Pfister fordert die Prüfung alternativer Optionen. Nicht ausschliessen will er gar die Variante, auf die EU-Forderungen nach einem Gerichtshof nicht weiter einzugehen. Explizit den Abbruch dieser institutionellen Verhandlungen fordert der Aargauer SVP-Nationalrat Maximilian Reimann: «Wir brauchen kein institutionelles Abkommen.» Die Schweiz müsse nun Härte zeigen.