Die Kritik an den Massnahmen des Bundesrates haben in den letzten Monaten zugenommen. Den einen gehen sie zu weit, den anderen zu wenig weit. Für beide hat Gesundheitsminister Alain Berset eine Antwort bereit.
«Die neue britische Variante ist ein Gamechanger», sagt Berset im Interview mit der Sonntagszeitung. Irland und Grossbritannien müsse uns eine Warnung sein. Ohne Massnahmen könnten der Schweiz bis zu 15'000 tägliche Ansteckungen bis Ende Februar drohen.
Doppelt so viele wie beim Höhepunkt – das wolle niemand, sagt Berset. Dass die Mutation nicht so extrem ansteckend sei, wie etwa vom deutschen Virologen Hendrick Streeck behauptet, will Berset nicht gelten lassen: «Ach, sehen Sie, man findet immer einen Spezialisten, der eine andere Haltung vertritt.» Es gebe genügend Beweise, dass das Virus zwischen 50 und 70 Prozent ansteckender sei. Berset beruht sich bei dieser Aussage auf Laboranalysen in der Schweiz. Da sich die Fälle mit dem neuen Virus wöchentlich verdopple, sei dem Bundesrat gar nichts anderes übrig geblieben als zu reagieren.
Wieso also kein härterer Lockdown als am vergangenen Mittwoch kommuniziert? Berset beantwortet die Frage mit einem etwa sechswöchigen Vorsprung, den man gegenüber Grossbritannien habe. Berset: «Wenn wir uns nicht spalten lassen und alle mitmachen, haben wir die Chance, die Lage zu stabilisieren. [...] Der Bundesrat kam nach intensiver Diskussion zum Schluss, dass der gänzliche Lockdown genauso unhaltbar wäre, wie einfach nichts zu tun.»
Und so oder so: Die Massnahmen würden bereits jetzt sehr weit gehen: «Ich weiss das. Ich bin selbst in der Situation, dass ich mit meiner Familie bis Ende Februar niemanden mehr treffen kann. Es geht nur gemeinsam. Wir müssen uns gegenseitig helfen, Rücksicht nehmen und das Virus eindämmen.»
Die Frage, die wohl alle interessiert: Kommt es noch zu einer Verschärfung? Berset will in einer Krise aus Prinzip nichts ausschliessen – geht aber davon aus, dass sich die Fallzahlen mit den neuen Einschränkungen genügend stabilisieren.
Von Schulschliessungen will Berset vorerst nichts wissen: «Schulen zu schliessen, ist das letzte Mittel.» Laut dem Gesundheitsminister gebe es verschiedene Indizien, dass besonders die Primarschulen keine wirklichen Hotspot seien. Eher sei es so, dass die Eltern die Kinder anstecken.
Dazu komme aber auch noch eine soziale Komponente: «Geschlossene Schulen verursachen sehr viel Leid – von Bildungslücken über Depressionen bis zu häuslicher Gewalt.» Das wisse man vom letzten Frühling.
Ein bisschen anders sieht es Berset allerdings für Berufsschulen und Gymnasien. Der Fernunterricht auf Sekundarstufe 2 sei tatsächlich eine Massnahme, die sich die Kantone überlegen sollten. Aber: «Für die Volksschule sehe ich das weniger.»
Die zweite Welle hätte besser bewältigt werden können, da sind sich alle einig. Wer die Schuld dafür trägt, da gehen die Meinungen auseinander. Liegt die Hauptschuld bei den Kantonen? Berset: «Ich werde jedenfalls nicht mit dem Finger auf andere zeigen, um von unserer Verantwortung abzulenken. Wir müssen bescheiden und selbstkritisch bleiben und die Entscheide wo nötig anpassen.»
In den letzten Tagen wurde aber auch die Kritik an der Person Berset lauter, die SVP macht ihn für fast alles verantwortlich und forderte gar, dass der Bundesrat das Corona-Dossier abgibt. Berset kontert: «Was würde das helfen? Der Bundesrat bewältigt diese Corona-Krise gemeinsam. Solche Attacken riechen nach Ablenkungsmanöver.»
Berset zeigt zwar Verständnis dafür, dass die Nerven bei allen ein bisschen angespannt seien, aber: «Trotzdem müssen wir aufpassen, dass wir unsere gute Debattenkultur nicht beschädigen. Wir sollten uns nicht auseinanderdividieren lassen. Wir müssen jetzt solidarisch handeln, damit wir das Virus kontrollieren können.»
Die Debattenkultur leide allgemein unter Corona, meint Berset. In diesen Zeiten müsse man Sorge dazu tragen, wie wir miteinander umgehen: «Wir dürfen nicht zulassen, dass das Virus unser Land spaltet. Die politische Kultur und das Vertrauen in unsere Institutionen sind Stärken der Schweiz.»
(jaw)