Am 1. April sind die Kantone am Zug: Sie werden alleine die Pandemie verwalten müssen – vom Bund gibt es nur wenig Hilfe. Heute gab es erste Vorschläge dazu, was in den nächsten Monaten geschehen könnte.
30.03.2022, 17:4931.03.2022, 12:55
Ab Freitag ist die Pandemiepolitik fédérale vorbei: Der Bundesrat kündigte heute an, die «besondere Lage» und damit sämtliche vom Bund erlassene Massnahmen aufzuheben.
Der Bundesrat sei sich bewusst, dass mit einem solchen politischen Dekret die Pandemie nicht beendet wird. Der weitere Verlauf des Virus könne nach wie vor nicht zuverlässig abgeschätzt werden. Zwar verschwinden die Masken- und Isolationspflicht – dies aber quasi «nur» auf Bundesebene. Mit der Aufhebung der «besonderen Lage» erhalten die Kantone die Kompetenzen in der Gesundheits- und Epidemienpolitik zurück, so wie sie die Bundesverfassung eigentlich vorsieht.
Dieser Schritt schafft neue Fragen: Wie wird die Schweiz reagieren, wenn das Coronavirus (oder ein anderer ansteckender Erreger) auf fiese Art und Weise zurückkommt? Noch hofft der Bundesrat auf die hohe Immunisierung der Bevölkerung: Diese habe schwerwiegende Auswirkungen für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Alltag verhindert. Das könnte sich aber jederzeit ändern.
Die Massnahmen
Der Bund will die Kantone für ein Worst-Case- und andere Szenarien nicht ganz alleine lassen. Er lässt dazu ein «Grundlagenpapier» mit den Kantonen diskutieren, das vier unterschiedliche Szenarien auflistet:
Szenario 1 – Tiefe Infektionszahlen: Aufgrund der bestehenden und anhaltenden Immunität in der
Bevölkerung bleibt die Viruszirkulation und die Auslastung des Gesundheitssystems tief. Es kommt zu wenigen und
nur regionalen Ausbrüchen.
Szenario 2 – Anstieg der Infektionszahlen kann mit vorhandenen Strukturen bewältigt werden: Es kommt zwar
zu einem Anstieg der Fallzahlen und zu einem erhöhten Druck auf
das Gesundheitssystem. Dieser kann jedoch mit den im Herbst/Winter 22/23 bestehenden Strukturen bewältigt
werden.
Szenario 3 – Anstieg der Infektionszahlen kann mit vorhandenen Strukturen nicht mehr bewältigt werden
(Szenario 3): Es kommt zu einem Anstieg des Infektionsgeschehens mit erhöhtem Risiko einer Überlastung
des Gesundheitswesens. Je nach deren Ausprägung kann das Infektionsgeschehen nicht mehr mit den bestehenden
Strukturen bewältigt werden.
Szenario 4 – Pandemiesituation mit einem neuen Erreger: Die Möglichkeit eines Auftretens
anderer Erreger mit Pandemiepotenzial sollte jederzeit berücksichtigt werden.
Der Bund will sich künftig grundsätzlich auf die ihm zugewiesene Rolle beschränken: Er überwacht und informiert die Kantone und die Bevölkerung über das pandemische Geschehen – und nimmt sich vor, den internationaler Personenverkehr allenfalls wieder einzuschränken. Hinzu kommen einige wenige Bundes-Massnahmen. Die sich jedoch allesamt als Aufträge an die Kantone unter gewisser «Koordination» des Bundes lesen:
- Virusvarianten dank Abwasser und Stichproben erkennen: Die Kantone werden «zeitgerecht» Abwasseranalysen an den Bund weiterleiten müssen. Dieser ist künftig nur noch dafür verantwortlich, die Daten zu sammeln, aufzubereiten, im Corona-Dashboard zu veröffentlichen und sie mit der Wissenschaft zu teilen. Der Bund hält zudem die Meldepflicht aufrecht: Wenn jemand positiv getestet wird, muss eine Hausärztin oder ein Testzentrum eine Meldung nach Bern erstatten – einzelne gen-sequenzierte Stichproben sollen zudem weiterhin einen repräsentativen Überblick über die aktuell zirkulierenden Virusvarianten ermöglichen.
- Testen, testen, testen: Das Covid-Motto von Gesundheitsminister Alain Berset soll weiterhin gelten – der Fokus wird aber auf besonders gefährdeter Personen oder ihr Umfeld beschränkt. Damit dürften Spitäler oder Altersheime gemeint sein, das Bundesamt für Gesundheit konnte auf Nachfrage keine Details dazu liefern. Umsetzen sollen das weiterhin die Kantone, wobei diese auch dafür sorgen müssen, dass grosse Testkapazitäten im Falle einer Verschlechterung der epidemischen Lage wieder aufgebaut werden können. Der Bund will hier künftig nur noch die «Rahmenbedingungen» sowie «Empfehlungen für die Teststrategie» schaffen und allenfalls gewisse Fragen des Worst-Case-Szenarios mit Laboratorien koordinieren.
- Stärke des Immunsystems und weitere Entwicklung erforschen: Der Bund will Studien und insbesondere sogenannte «Kohortenstudien» weiter unterstützen und finanzieren. Dazu gehört auch die Erforschung der Immunantwort (wie lange hält etwa die Impfung oder der Immunschutz nach einer Erkrankung?), aber auch Untersuchungen zu «Long Covid»-Erkrankungen sowie Modellrechnungen zum weiteren Epidemienverlauf. Sprich: Die Forschung wird weiterhin vom Bund unterstützt, die Kantone sollen aber die Daten dazu liefern.
Offene Fragen
Der Bundesrat schenkt bei all diesen Punkten den Kantonen ein grosses Vertrauen. Gesundheitsminister Alain Berset sagte dazu auf Anfrage von watson: «Wir befinden uns in einer ganz anderen Situation als vor zwei Jahren. Die Kantone haben sich weiterentwickelt und sind nun gut in der Lage, sich auf kommende Wellen vorzubereiten. Zudem haben wir in der Bevölkerung heute eine gewisse Grundimmunisierung, das schafft Sicherheit und wird funktionieren.»
«Die Kantone sollten nach 2,5 Jahren eine solche Situation selbstständig bewältigen können. Das muss möglich sein – wir haben uns das nötige Know-how angeeignet.»
Bundesrat Alain Berset
Offen bleibt hingegen, ob die Kantone das von ihnen erwartete liefern werden. Im Gegensatz zur «besonderen» oder «ausserordentlichen Lage» wird der Bund dazu keine Ersatzmassnahmen liefern können. Sprich: Wenn Kantone in Worst-Case-Szenario keine Kapazitätsbeschränkungen, Schutzkonzepte oder Kontaktquarantäne-Massnahmen wollen, kann sie auch niemand dazu zwingen. Der Bund will und darf dazu künftig nur noch bei Bedarf Empfehlungen erlassen.
Ob das reicht, wird sich zeigen: Die Diskussion rund um CO2-Messgeräten oder der Maskenpflicht an Schulen bescherte der föderalistischen Gesundheitspolitik viel Kritik.
Zumindest was Maskenpflicht in Spitälern und Heimen betrifft, zeigen sich die Kantone offen für Schutzmassnahmen: Diese seien sinnvoll und könnten vom Kanton oder von der Institution angeordnet werden, so die Gesundheitsdirektorenkonferenz kurz nach dem Bundesratsauftritt. Über weitere Fragen wollen die Kantone in den nächsten Tagen informieren. Sie haben bis zum 22. April Zeit, sich zu den Gedanken des Bundes zu äussern.
Kein Konsens aus der Politik
Die ersten Reaktionen der Parteien gehen zumindest in einem Punkt in dieselbe Richtung: Man freut sich über mehr Normalität. Die SVP meint, dass dieser Schritt zu spät komme. Die SP kritisiert ihn als zu früh. Lob gibt's von der Mitte und der FDP.

GLP-Nationalrat Martin Bäumle und sein CO2-Messgerät.Bild: keystone
Eine besondere Reaktion kam von GLP-Nationalrat Martin Bäumle: Er hat dem Bundesrat einen Fragekatalog zugestellt, in dem er als Atmosphärenwissenschaftler theatralisch-naiv die Frage stellt: Wann anerkennt und informiert der Bundesrat die Tatsache, dass Coronaviren über das «Einatmen respiratorischer Partikel, überwiegend Aerosole» verbreitet wird? Der GLP-Nationalrat bringt mit dieser rhetorischen Frage einmal mehr die Luftqualitätssensoren ins Spiel und fordert damit mehr Sensibilisierung insbesondere von Restaurants, Bars, Clubs, Fitnesscentern, Arztpraxen und Einkaufsgeschäften.
Der Bundesrat wird auf Bäumles Fragen im Mai Red und Antwort stehen müssen. BAG-Kader Patrick Mathys lieferte am Mittwoch aber eine erste Antwort dazu: Man anerkenne den Nutzen von CO2-Sensoren – diese würden aber von der Eigenverantwortung ablenken.
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quelle: instagram/north_london_allotment
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Video: watson
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- Darauf waren wir nicht vorbereitet
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Im Westen nichts Neues
Dieser Satz fasst die Schweizer Politik doch irgendwie schön zusammen. 😁
(Enthält Spuren von Ironie)