Dem Zürcher Nationalrat Balthasar Glättli ist gelungen, was bisher in der Schweiz noch niemand erreicht hat. Er hat sich bei seinem Mobilfunk-Provider Zugriff auf die über ihn gespeicherten Daten verschafft – und sie watson und der Schweiz am Sonntag anvertraut. Die zwischen Januar und Juli 2013 aufgezeichneten Daten enthüllen das genaue Bewegungs-, Beziehungs- und Persönlichkeitsprofil des Politikers: Seine zurückgelegten Wege, seine Freunde, seine Interessen.
Swisscom, Sunrise und Orange müssen von allen Kunden speichern, wer wann mit wem wie lange von wo aus telefoniert oder gemailt hat. Das geschieht nicht im Geheimen, sondern seit einer Gesetzesanpassung im Jahr 2002 ganz offiziell. Die Daten müssen für ein halbes Jahr gespeichert werden – unabhängig davon, ob jemand verdächtigt wird oder nicht. Entsprechend haben wir es mit einer Datenspeicherung auf Vorrat zu tun – für den Fall, dass später gegen jemanden ermittelt wird.
Auf Basis dieser Daten können Sie in unserer interaktiven Grafik alle Bewegungen von Nationalrat Glättli in einem Zeitraum von sechs Monaten nachvollziehen. Die Ortungsdaten haben wir zusätzlich mit frei im Internet verfügbaren Informationen aus dem Leben des Parlamentariers (Twitter, Facebook und Webseiten) verknüpft.
Mit der Play-Taste startet die Reise durch Balthasar Glättlis Leben. Sie können die Reise an beliebigen Punkten verlangsamen und mit der Pause-Taste anhalten. Zoomen Sie in die Karte, um genauer zu verfolgen, wo sich der Politiker befindet. Der Kalender zeigt Ihnen, an welchen Tagen Glättli in welcher Stadt war.
Die interaktive Karte zeigt, wo Nationalrat Glättli unterwegs war und mit welchen Journalisten, Politikern und Familienangehörigen er kommuniziert hat. Die Personendaten wurden von uns anonymisiert. (Die Karte funktioniert am besten auf einem grossen Bildschirm oder auf Smartphones im Querformat.) Grafik: watson.ch, «Schweiz am Sonntag», OpenDataCity, Digitale Gesellschaft
Was verraten die Datenspuren über uns, die wir ständig mit Smartphones und Computern hinterlassen? Um dies zu demonstrieren, picken wir einen bestimmten Tag im Leben von Politiker Glättli heraus. Wir könnten auch jeden anderen Tag nachverfolgen.
Es ist der 1. Juli 2013, für Balthasar Glättli ein spezieller Tag. Der Sicherheitspolitiker ist unterwegs in geheimer Mission.
Auf unserer interaktiven Überwachungskarte taucht ein roter Punkt in Zürich West auf. Die Position der Zielperson Balthasar Glättli wird von seinem Handyprovider erfasst. Der Nationalrat hat sein Smartphone aktiviert und eine erste E-Mail an einen Parteikollegen verschickt. Dies lässt sich in der Überwachungskarte ablesen. Wir sehen den Empfänger und Betreff der Nachricht, nicht aber den Inhalt. (Hinweis: Wir haben Namen und den E-Mail-Betreff in der publizierten Karte unkenntlich gemacht.)
Bis um zirka 7.30 Uhr ist Glättli in seiner Wohnung in Zürich, erhält E-Mails fast im Minutentakt und hört seine Combox ab. Dann setzt sich der rote Punkt langsam in Bewegung. Es geht zum Hauptbahnhof. Kurz nach 7.45 Uhr bewegt sich Glättli mit höherer Geschwindigkeit dem Zürichsee entlang Richtung Zentralschweiz. All dies können Sie auf unserer Karte mitverfolgen. Wohin geht die Reise?
Ein Hinweis gibt uns sein Facebook-Profil: Glättli ist Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates (SiK-N). Auf Facebook schreibt er, dass er den 1. und 2. Juli mit der SiK verbringt. Diese soll in Genf tagen. Warum fährt er dann Richtung Vierwaldstättersee?
Der Mobilfunkprovider trackt Glättli kurz vor Mittag in der Region Göschenen/Andermatt. Interessant: In einem unbekannten Armeebunker im Gotthardmassiv plant die Schweizer Armee bis 2018 das erste vollgeschützte Rechenzentrum. Ein Zufall, dass Glättli gerade dort ist? Wohl kaum. Als Mitglied der SiK hat er am 1. Juli 2013 den geheimen Standort des 270 Millionen teuren Rechenzentrums besucht – und die Position durch seine vom Handyprovider gespeicherten Daten indirekt aufgedeckt.
Da sein Handy aktiviert war, lassen die Ortungsdaten auf den Standort der geplanten Armeeanlage schliessen, die bislang nur als Projekt «Fundament» bekannt ist. Übrigens: Die Mitglieder der SiK haben den Kredit für das bombensichere Rechenzentrum nach ihrem Abstecher nach Andermatt einstimmig durchgewunken.
Auf dem Weg in die Zentralschweiz erhält unsere Zielperson kurz nach 11 Uhr eine SMS von Redaktor R.W von der «Aargauer Zeitung». Dieser möchte von Glättli ein Statement zu Edward Snowden, da sich der Grüne-Politiker prominent dafür einsetzt, dass der NSA-Enthüller in der Schweiz Asyl erhält. Am Nachmittag melden sich weitere Journalisten von «10vor10», «20 Minuten» und dem «Landboten» mit Fragen zu Herrn Snowden. Dies lässt sich anhand des E-Mail-Betreffs sagen, der auch bei verschlüsselten E-Mails sichtbar ist. (Details zu Glättlis Anrufen, E-Mails und SMS finden Sie am Ende des Artikels.) Dass sie einen Nationalrat am Telefon haben, der gerade eine streng geheime Militäranlage besucht, ist den Journalisten nicht bewusst.
Ende der geheimen Stippvisite im Alpenbunker. Offiziell war die SiK-N nicht in Andermatt, sondern tagte am 1. und 2. Juli in Genf. Die SiK-Mitglieder werden daher mit einem Helikopter an den Lac Léman disloziert. Das wird deutlich, wenn man Glättlis Positionsdaten auf unserer interaktiven Karte verfolgt. In weniger als zwei Stunden wandert der rote Punkt vom Gotthard auf direktem Weg nach Genf. Eine Zugfahrt würde über fünf Stunden dauern.
Der Helikopter mit Glättli an Bord landet bei der Militärkaserne Genf in der Nähe des Stadtzentrums. Auch dies verraten uns die vom Handyprovider aufgezeichneten Standortdaten.
Nach der Landung berichtet er auf Twitter über seinen Tag mit der SiK und verliert kein Wort zum Abstecher in den geheimen Alpenbunker.
Zwischen 17.20 und 17.23 Uhr werden drei SMS von Glättlis Smartphone an einen Zürcher SVP-Politiker verschickt. Die Nacht verbringt unsere Zielperson vermutlich in einem Hotel in der Nähe des Genfer Bahnhofes. Aus dieser Region kommt am 1. Juli um Mitternacht die letzte und am frühen Morgen des 2. Juli die erste Positionsortung.
Am Morgen des 2. Juli wandert der rote Punkt in Genf umher. Auch Sie können das mit unserer interaktiven Karte überprüfen. Glättli verlässt die Rhonestadt gegen Mittag, als Grüner vermutlich per Bahn. Auf der Fahrt nach Zürich setzt er zahlreiche Tweets zum NSA-Skandal ab und erhält diverse Anrufe von Medien: Darunter «Tages-Anzeiger», «Blick am Abend», Tele Top, Radio 1 und Radio Energy.
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Julien Marchand