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Kindergartenstart im Februar? Der Ruf nach alternativen Lösungen wird lauter

Kinder auf dem Weg zum Kindergarten in Basel am Montag, 11. Mai 2020. Nach mehrwoechiger Pause als Schutzmassnahme gegen das Coronavirus wird der Schulbetrieb wieder aufgenommen. (KEYSTONE/Georgios Ke ...
Beginn eines neuen Lebensabschnitt: Der Weg in den Kindergarten.Bild: KEYSTONE

Kindergartenstart im Februar? Der Ruf nach alternativen Lösungen wird lauter

Manche Kinder sind mit vier Jahren zwar bereit für den Kindergarten, brauchen aber noch Windeln. Was tun? Die Einschulung um ein ganzes Jahr verschieben? Der Zürcher Kantonsrat und Wissenschafterinnen fordern jetzt, den Kindergartenstart auch im Frühjahr zu ermöglichen.
14.08.2021, 06:33
Kari Kälin / ch media
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Ein bedrückt dreinblickendes Mädchen, ein schreiender Bub, dazu die Überschrift: «Schulzwang für 4-Jährige?». Mit diesem Plakat stiegen überparteiliche Komitees rund um die SVP in den Abstimmungskampf gegen Harmos – in einigen Kantonen, etwa Luzern, mit Erfolg. Das politische Gezerre um den Harmos-Beitritt liegt mehr als zehn Jahre zurück.

Doch eine Frage von damals, die viele Eltern gerade in den Tagen vor dem Schulstart umtreibt, ist auf der Agenda geblieben: Ist mein Kind mit vier Jahren bereit für den Kindergarten? Oder noch viel zu verspielt und zu jung? Letzteres denken ein Drittel der Eltern, wie eine Umfrage von Bildungsökonom Stefan Wolter zeigt. Das schlägt sich in den Zahlen zu Einschulungen nieder. Jedes fünfte Kind tritt später in die 1. Primarklasse ein, als es eigentlich sollte. Viele davon haben den Kindergarten verzögert besucht.

In den 15 Harmos-Kantonen sowie Aargau und Thurgau ist der zweijährige Kindergarten ab vier Jahren obligatorisch. In den meisten Kantonen ist der Stichtag Ende Juli. Die jüngsten Kindergärtler sind somit vier Jahre und wenige Wochen alt, wenn sie erstmals mit Leuchtstreifen und Znünitäschli in Richtung Schulgebäude losmarschieren, die ältesten fast fünfjährig.

Das ist eine grosse Differenz in einem Alter, in dem Kinder innert weniger Monate grosse Entwicklungssprünge machen. Je nach Kanton haben die Eltern mehr oder weniger Mitspracherechte, wenn es darum geht, den Kindergarteneintritt um ein Jahr zu verschieben.

Zürcher Regierung muss Flexibilisierung prüfen

Bräuchte es alternative Lösungen? Aus Sicht des Zürcher Kantonsrats ist das der Fall. Anfang Jahr hat es einen Vorstoss angenommen, in dem Parlamentarier der FDP, SVP und GLP dafür plädieren, die Zurückstellung um ein halbes Jahr zu ermöglichen. Das bedeutet: Ein Kind soll auch im Februar anstatt im August in den Kindergarten eintreten können – und eineinhalb Jahre später trotzdem die erste Primarklasse besuchen.

Eine Lehrerin im Kindergarten zeigt den Kindern wie man die Haende waescht am ersten Schultag waehrend der Corona-Pandemie im Schulhaus Hutten in Zuerich, aufgenommen am Montag, 11. Mai 2020. (KEYSTON ...
Jedes fünfte Kind tritt später in die 1. Primarklasse ein, als es eigentlich sollte.Bild: KEYSTONE

Kantonsrat Marc Bourgeois (FDP) argumentierte, ein Teil der spätgeborenen Kinder einer Klasse sei nicht oder bloss knapp bereit für den Kindergarten. Dies führe zu einer höheren Belastung für die Kindergartenlehrpersonen. Ein anderes typisches Hindernis: Manche Vierjährige mögen intellektuell bereit sein, benötigen aber noch Windeln. Gemäss dem Remo-Largo-Klassiker «Babyjahre» sind 10 Prozent der Kinder zu Beginn des 5. Lebensjahres noch nicht trocken. In der Vergangenheit hielt der Verband Kindergarten Zürich in einem Positionspapier die Forderung fest: «Lehrpersonen wickeln keine Kinder.»

Die Zürcher Regierung muss nun gegen ihren Willen die Möglichkeit eines flexibilisierten Kindergarteneintritts prüfen. Sie befürchtet unter anderem, ein späterer Kindergarteneintritt bringe Unruhe in eine Klasse.

Luzern: Mehr als 205 Kinder starteten im Februar

In den Nicht-Harmos-Kantonen entschärft sich die Problematik des zu frühen Kindergartenstarts insofern, als das erste Jahr freiwillig und der Eintritt erst mit fünf Jahren obligatorisch ist. In Graubünden sind sogar beide Jahre fakultativ. Die allermeisten Kinder besuchen indes beide Kindergartenjahre.

Eine Umfrage von CH Media bei den Kantonen zeigt: Mitten im Schuljahr den freiwilligen Kindergarten zu starten, ist nur in den Kantonen Obwalden, Appenzell Ausserrhoden und Luzern möglich. Natürlich höre man ab und zu, es sei aufwendig, die Kinder in die Gruppe zu integrieren, sagt Aldo Magno, Leiter der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern. «Aber das ist Teil des schulischen Auftrags.» Zudem gehöre es zum sozialen Lernen, dass Kinder einen Umgang mit geänderten Konstellationen in einer Gruppe fänden. Im letzten Schuljahr begann die Bildungskarriere für 205 Kinder im Februar. Das entspricht 2.5 der Lernenden auf dieser Stufe.

Der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer befürworte den halbjährlichen Kindergarten im Grundsatz. Geschäftsleitungsmitglied Ruth Fritschi weist darauf hin, flexible Eintritte auf das zweite Halbjahr bedeuteten auf jeden Fall Mehraufwand.

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Unterstützung gibt es auch von wissenschaftlicher Seite. Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften und Leiterin des Forschungsinstituts «Swiss Education» mit Sitz in Aarau, findet es zwar richtig, wenn Kinder früh, auch schon mit vier Jahren, im Kindergarten gefördert werden. Dass relativ viele Kinder später den Kindergarten besuchen als sie es gemäss dem Stichtag müssten, betrachte sie als «Achillesferse» des Systems.

Im Frühjahr sieht die Welt anders aus als im Sommer

Stamm sagt: «Vielleicht ist ein Kind im August noch sehr verspielt und noch nicht trocken. Doch dann macht es einen Entwicklungsschub und im Februar sieht die Welt ganz anders aus.» Bleibe es dann ein weiteres halbes Jahr daheim, könne Unterforderung drohen. Und:

«Mit einer Flexibilisierung rücken die Interessen der Kinder ins Zentrum.»

Stamm könnte sich vorstellen, den Kindergartenstart mit einer Eingewöhnungsphase wie in der Kita zu flankieren. Sie plädiert dafür, den Kindergartenlehrpersonen Klassenassistenzen zur Entlastung zur Seite zu stellen. Stamm denkt dabei an Studierende von Pädagogischen Hochschulen.

Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm.
Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm.bild: iris krebs

Auch Kinderarzt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, unterstützt einen flexibilisierten Kindergarteneintritt. Ein rigider Stichtag werde der grossen Entwicklungsvielfalt der Kinder nicht gerecht und führe dazu, dass die jüngeren Kinder häufiger als schwächer und unreifer wahrgenommen würden als die Älteren. In der Tat hat Bildungsökonom Wolter diesen relativen Altersvorteil auch in einer laufenden Studie für die Schweiz festgestellt.

Oskar Jenni ist Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.
Oskar Jenni ist Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.Bild: Severin Bigler

Jenni sagt, die Einstufung der Kinder solle unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes anstatt nach Jahrgang erfolgen. Für ihn und Margrit Stamm lautet die Frage nicht, ob die Kinder bereit für die Schule seien, sondern die Schule bereit für die Kinder. Sie plädieren für einen Unterricht, der sich am individuellen Entwicklungsstand der Kinder orientiert.

Vielfalt fordert Lehrpersonen heraus

Für Lehrer bedeutet das eine didaktische Herausforderung. «Der Umgang mit Vielfalt ist eine komplexe Arbeit, die nicht einfach so gelingt», sagt Stamm. Die Lehrpersonen packten dies unterschiedlich an. Stamm würde sich wünschen, dass gerade in den unteren Stufen vermehrt im Team unterrichtet würde, um besser auf die einzelnen Schüler eingehen zu können. Doch das scheitere politisch an der Kostenfrage.

Carl Bossard.
Carl Bossard.Bild: KEYSTONE

Nicht alle Pädagogen begrüssen den halbjährlichen Kindergarteneintritt. Auf den ersten Blick, sagt Carl Bossard, töne die Idee zwar bestechend. Auch der Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug betont, das Bildungssystem müsse dem individuellen Entwicklungsstand der Kinder Rechnung tragen.

Doch Bossard befürchtet, der halbjährliche Eintritt störe die Stabilität und Harmonie in einem Klassengefüge. Es brauche sie, damit sich Kinder individuell und gemeinsam entwickeln könnten. Sein Vorschlag:

«Nicht den Kindergarteneintritt für alle mit vier Jahren erzwingen, sondern auch mit fünf Jahren ermöglichen.»

Das Modell also, das in Nicht-Harmos-Kantonen vorherrscht.

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100 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kaleidoskop
14.08.2021 09:07registriert November 2020
Vielleicht wäre es besser, wenn Kinder generell erst ein Jahr später in den Kindergarten gingen. Dann würde sich nämlich das Alter auch steigern, in den es darum geht, eine Lehrstelle zu suchen. Mit knapp 14 ist man manchmal nämlich auch nicht bereit eine Lehrstelle zu suchen.
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Ironiker
14.08.2021 07:38registriert Juli 2018
Im Kanton Bern hat man das Recht sein Kind ein Jahr länger Zuhause zu behalten. Unsere Tochter hätte mit 4 Jahren und 2 Monate in den Kindergarten sollen.

Wir fanden das zu früh und haben sie ein Jahr zurück behalten. Die Kindergärtnerin hat uns später bei jedem Elterngespräch bestätigt, dass wir den richtigen Entscheid getroffen hatten.

Aber ja, ein Kind das in den Kindergarten geht, gjbt den Eltern ein Stück Freiheit zurück. Es sollten aber nicht die Eltern oder Harmos im Vordergrund stehen, sondern das Kind!
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LieberTee
14.08.2021 08:13registriert Dezember 2017
Als Kindergärtnerin kann ich nur den Kopf schütteln. Shon ein einzelner Zuzug während des Schuljahres kann die Klasse komplett durcheinander bringen. Nun soll alle 6 Monate die Klasse komplett durchgerüttelt werden? Den Anschluss schaffen diese Kinder ja dann auch nicht. Was soll das bringen?

Besser ist es, wenn die Gemeinden die Spielgruppe für alle Kinder möglich machen.
Bei uns ist das so und wir sind sehr froh um die gute Arbeit, welche die Spielgruppe leistet. Da gibts auch flexible Einstiegsmöglichkeiten... Gruppen, die im Februar neu starten.
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