Der Tod ist am Ende immer die traurigste aller Neuigkeiten. Auch wenn einer ihn hat kommen sehen und mit ihm alle andern. Dass es nun bald so weit sein könnte, das wurde der hiesigen Filmgemeinde zum letzten Mal am 21. März bewusst, als Peter Liechti den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm nicht persönlich entgegen nehmen konnte. Tage zuvor hatte man ihn noch auf der Zürcher Fritschiwiese im Kreis 3 gesehen, nicht weit entfernt von seinem Zuhause. Er sass da in der Frühlingssonne, ein grosser Mann, ein müder Mann, und die Jungen, die ihn erkannten, sagten voller Ehrfurcht, dass es in der Schweizer Filmszene wirklich keinen cooleren Kopf als Peter Liechti gäbe.
Am vergangenen Freitag hat er nun den ganzen prächtigen Frühling verlassen, und man fragt sich, wie es war für ihn, ob er diese letzten Momente etwa so erlebte, wie er sie in «The Sound of Insects» beschrieben hatte, jenem seltsamen Film, für den 2009 den Europäischen Filmpreis gewonnen hatte. Jene Verfilmung eines Romans des Japaners Shimada Masahiko, der wiederum «nach einer wahren Geschichte» entstanden ist: Ein Mann geht mit der Absicht, zu sterben, in den Wald und wird im Leichensack wieder herausgetragen. Dazwischen folgen wir seiner Beschreibung darüber, wie sich der Körper langsam auflöst und wie sich die Wahrnehmung verändert, wie das Summen der Insekten lauter klingt als das Radio. Ein Film über den Vorgang des Sterbens.
Auch «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern», der ihm am 21. März den Preis einbrachte, ist ein Film übers Abschiednehmen geworden. Der Versuch, sich jetzt endlich seinen «sehr alten» Eltern richtig anzunähern, ist ein Versuch, der scheitert in der Erkenntnis, dass ihre Welt und die eigene befremdlich wenig miteinander zu tun haben, und dass die Welt der Eltern weit komplexer ist, als ein Kind das jemals annehmen kann. «Vaters Garten» ist ein Film, der bei aller komödiantischen Unterhaltsamkeit unendlich traurig macht.
Vielleicht hätte man es merken müssen, dass da einer abschliesst mit der Einsicht, dass im Leben leider nicht alles aufgehen kann, dass ein loses Ende manchmal lose bleiben muss und eine Unversöhnlichkeit sich nicht aussöhnen lässt, auch nicht, wenn der Sohn die besten Absichten hegt. Und dass daran im Grunde gar nichts Schlimmes ist, weil ein Leben sonst gar keines wäre.
Peter Liechti war der weise Essayist des Schweizer Films, und dass er gemeinhin als Dokumentarfilmer bezeichnet wird, trifft seine Tätigkeit nicht wirklich. Zwar waren seine Geschichten dokumentarische, aber seine Filmsprache war eine eigene Kunst, eine Übersetzung in Bilder, die mal in eine starke, mal in eine ironische Distanz gingen zu seinen Sujets und immer von einer starken, kompositorischen Hand zeugten.
Dass er mit seinem launigen Künstlerfilm «Signers Koffer» (1996) über den Aktions- und Explosionsartisten Roman Signer seinen Durchbruch hatte, das könnte passender nicht sein, es trafen sich da zwei erratische Geister mit sichtbarer Freude aneinander, und es hat dem Liechti bestimmt gut getan, wenn der Signer unbeschwerte Dinge sagte wie: «Ich kann aus Sicht eines andern Menschen einen Tag lang den grössten Blödsinn machen, ich geh am Abend ins Bett und bin total zufrieden, und habe nicht das Gefühl, ich hätte dem Herrgott einen Tag gestohlen. Das ist Arbeit!»
Peter Liechti hat sich für seine Filme auch immer wieder Arbeit an und mit sich selbst aufgetragen. Im Halbstünder «Ausflug ins Gebirg» (1986), aus dem das typische Liechti-Bonmot «Der Berg zerstört meine Gedanken. Der Berg macht blöd» stammt und in «Hans im Glück» (2003) etwa setzte er sich selbst ausgiebig in den Bergen aus, einmal, um seinen Anti-Heimatfilm-Reflex zu prüfen, einmal, um mit dem Rauchen aufzuhören.
Er fand in den Bergen schliesslich hässliche Hotelzimmer und die immer gleiche Himbeertorte und erkannte, dass ein Peter Liechti ohne Rauchen etwa so unglücklich ist wie eine Kuh ohne frisches Gras. Er hat weitere Künstlerfilme gemacht, etwa mit dem südkoreanischen Medienkunst-Pionier Nam June Paik oder mit dem Musiker Norbert Möslang.
Wie Möslang kam auch Peter Liechti aus St. Gallen, er wurde da 1951 in diese präzis abgesteckten, kleinstbürgerlichen Verhältnisse hineingeboren, die in «Vaters Garten» so schön aufgefächert werden, ins Schrebergartenidyll eines Paares, das es mit dem unsentimentalen, aber dennoch herzlichen Pragmatismus einer früheren Generation miteinander aushält. «Geistig haben wir nie zusammengepasst. Körperlich auch nicht, würde ich sagen. Aber ich habe den Max wahnsinnig gern», sagt Mutter Hedy da über Vater Max, es ist so ein Satz, den die Zuschauer nicht vergessen. Und bei aller Fremdheit zwischen Eltern und Sohn ist jetzt klar, woher Peter Liechti seine Lakonie hatte.
Dass er zuerst eine halbwegs anständige Ausbildung zum Zeichenlehrer machte, auch das passt zu seiner Herkunft, es liess sich da eine gewisse konventionelle Vorsicht einfach nicht ablegen. Das Medizinstudium, in dem er sich noch vorher für kurze Zeit versucht hatte, scheint da schon fast zu tollkühn. Es dürfte ihm allerdings bei der filmischen Auslotung des Physischen und Physikalischen später doch noch zu Gute gekommen sein. Als er seinen ersten Film «Sommerhügel», eine provokative Studie des Appenzellerlandes, drehte, da war er bereits 33 Jahre alt.
Ausserhalb der Schweiz ist Peter Liechti übrigens besonders in Berlin beliebt und berühmt. In jener Kreativexklave der Schweiz also, wo sich vor allem späte Kinder mit ihren prekären Selbstverwirklichungsfantasien so gerne aufhalten. 2013, an der Berlinale, haben sie Peter Liechti zu ihrem Ersatzvater gewählt: «Vaters Garten» erhielt einen Publikumspreis, und erst vor wenigen Tagen ist seine Werkschau im Kino Arsenal am Potsdamer Platz zu Ende gegangen.
Er selbst hat sich das wohl alles angesehen, den Schweizer Filmpreis und all die andern Preise davor, die Werkschau in Berlin und überhaupt sein ganzes Werk, die Liebe seiner Eltern, die seit vielen Jahrzehnten anhält, obwohl sie so gar nicht dem entspricht, was wir uns unter Liebe vorstellen. Und er ging wohl in dem Wissen, dass das alles sehr gut und sehr richtig war. In seines Vaters Garten muss es jetzt besonders schön sein.