Zwischen dem 1. Dezember 2023 und dem 3. Januar 2024 haben Jäger schon 41 Wölfe abgeschossen, wie die «Bauern Zeitung» schreibt. Das sind 14 Prozent des gesamten Wolfsbestands der Schweiz. Darunter sind wahrscheinlich auch zwei ganze Rudel im Kanton Wallis, wobei genaue Zahlen noch fehlen.
Die Tiere durften präventiv geschossen werden – noch bevor sie einen Schaden angerichtet haben. Dank der neuen Jagdverordnung, die Bundesrat Albert Rösti als Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) durchgesetzt hat. Diese erlaubt zudem auch die Ausrottung ganzer Rudel, sobald ein einziger Wolf des Rudels einmalig Schaden verursacht hat.
Dass «proaktive» Schüsse künftig erlaubt sein sollten, darauf hatte sich das Parlament im Dezember 2022 zwar geeinigt, weil die Zahl der Wölfe in der Schweiz in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist. Allerdings mit einem wichtigen Zusatz: Die Wolfspopulation darf nicht gefährdet werden. Ob die neue Jagdverordnung diesen Zusatz einhält, bezweifeln Umweltverbände und linke Parteien.
watson hat mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes die Herausgabe zahlreicher interner Dokumente und Mails aus Röstis Departement bewirkt. Diese zeigen auf, wie der SVP-Bundesrat eine Jagdverordnung durchdrücken konnte, welcher eine wissenschaftliche Grundlage fehlt.
Ein Drama in fünf Akten.
Im Februar 2023 ist noch alles in Ordnung. Wortwörtlich. «I.O.» schreibt Rösti zum Zeitplan, den das BAFU für ihn ausgearbeitet hat, in welchem das UVEK ganz nach dem Wunsch des Parlaments das neue Jagdgesetz umsetzen sollte. Er sieht vor, dass das neue Gesetz am 15. Juli 2024 in Kraft tritt.
Doch im Mai ist plötzlich nicht mehr alles «i.O.». Und es muss schnell gehen. Weil Rösti nicht bis im Juli 2024 warten will, bis ein Wolf präventiv geschossen werden darf. Warum? Das bleibt auch beim Durchforsten der internen Dokumente unklar.
Dafür zeigt sich: Rösti wirft den ganzen Zeitplan über den Haufen. Neu will er eine zweiteilige Umsetzung des neuen Jagdgesetzes.
Der erste Teil, in dem es um die «präventive Wolfsstandregulierung» geht, soll per 1. Dezember 2023 umgesetzt sein. Der zweite Teil, in dem sich Rösti allen weiteren Wünschen des Parlaments bezüglich eines neuen Jagdgesetzes widmet – etwa überregionalen Wildtierkorridoren –, erst per 1. Januar 2025.
Im Juni setzt sich Röstis Sekretariat mit den Expertinnen und Experten des Bundesamts für Umwelt (BAFU) zusammen und bespricht die Wolfsfrage. «Diskutiert wurde insbesondere der minimale Wolfsbestand», schreibt das BAFU im August in einem Rapport:
Auf diese Zahl kam das BAFU aufgrund wissenschaftlicher Berechnungen, die 2016 die internationale Arbeitsgruppe «Wildlife and Society WISO» durchgeführt hatte.
Mindestens 20 Rudel? Zu viel, findet der «DC», wie das BAFU im Bericht schreibt. Der Departementschef. Albert Rösti.
Röstis Sekretariat hat darum selbst drei Varianten ausgearbeitet, wie ein tieferer Mindestbestand der Wolfsrudel durchgesetzt werden kann, und schlägt sie dem BAFU vor:
Das BAFU spricht sich für die letzte Variante aus: «Sie entspricht dem Anliegen des DC [Albert Rösti] und ist der heutigen Realität in den Kompartimenten angepasst.»
Als Bundesrat Albert Rösti am 1. November schliesslich vor die Medien tritt und die Teilinkraftsetzung des Jagdgesetzes vorträgt, hat sich diese Zahl nochmals geändert. Auf einen festgelegten Minimalbestand von zwölf Wolfsrudeln.
Warum zwölf? Woher kommt diese Zahl?
Diese Frage bleibt auch nach dem Studieren der internen Dokumente offen. Zwölf steht nirgends. Weder in einem Protokoll noch in einem Entwurf oder einer Begründung. Viele Medien vermuten Willkür bei der Festlegung der Zahl, etwa die WOZ oder die Republik.
Wir fragen beim UVEK nach. Die Kommunikationsabteilung schreibt:
Eine Population von rund 100 Wölfen entspreche den angesprochenen Rudeln. Innerhalb der Jagdverordnung sei und vor allem bleibe der Wolf eine geschützte Tierart.
So ist der Schwellenwert von zwölf Rudeln wohl zustande gekommen.
Beim Streit um die Zahl gewinnt Rösti. Nicht das BAFU.
Bei Gesetzesänderungen ist der Bund gesetzlich verpflichtet, eine Vernehmlassung mit den Kantonen, Bundesämtern und betroffenen Verbänden durchzuführen. Doch Rösti hat es pressant. Darum «soll auf eine Vernehmlassung der neuen Ausführungsbestimmungen verzichtet werden», steht in den Dokumenten des BAFUs. Das BAFU rät Rösti davon ab.
Sein Sekretariat klärt dennoch ab, ob es möglich ist, eine Vernehmlassung wegzulassen. Dies zeigt ein Mailverlauf zwischen dem UVEK und der Bundeskanzlei. Letztere antwortet, ein Verzicht auf eine Vernehmlassung könne nur begründet werden, wenn das UVEK darlegen könne, dass es die Positionen der Anspruchsgruppen anderweitig eingeholt habe. Letztlich liege die Verantwortung bei einem Verzicht aber beim UVEK.
Und konnte das UVEK nachweisen, dass es die Positionen der Kantone, Ämter und Verbände eingeholt hat?
Die Kommunikationsabteilung des UVEK antwortet auf diese Frage:
Die Auswertung dieser schriftlichen Stellungnahmen liegt watson vor. Und sie zeigt grosse Gräben. Einerseits zwischen dem UVEK und anderen Ämtern.
Das Bundesamt für Justiz (BJ) verweist etwa auf den Mindestbestand von 20 Rudeln, den auch das BAFU empfiehlt, und schreibt:
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) beantragt eine ordentliche Vernehmlassung und einen Mindestbestand von 20 Rudeln. Ausserdem fordert es eine Begründung für die «tiefe Schadensschwelle von einem Grossviehriss», ab dem neu ein ganzes Rudel geschossen werden darf.
Und die kantonale Konferenz für Wald, Wildtiere und Landschaft (KWL) kritisiert die Eile von Rösti: «Durchdachte und gemeinsam erarbeitete Jagdschutzverordnung ist wichtiger als rasche Inkraftsetzung.» Und: «Willkürliche Festlegung von zu tiefen Schwellenwerten.»
Die Bundeskanzlei schreibt lediglich:
Der zweite Graben zeigt sich zwischen den Verbänden. Während der Schweizerische Bauernverband (SBV) das Vorwärtsmachen Röstis begrüsst und lediglich den Wunsch äussert, dass der Mindestbestand noch tiefer gesetzt wird – auf sieben Wolfsrudel –, sind Umweltschutzverbände konsterniert:
Wenn keine Anpassungen gemacht würden, würden sie gerichtlich überprüfen lassen, ob die Revision der Jagdschutzverordnung gesetzeskonform sei.
Am 1. Dezember wird die Jagd auf den Wolf eröffnet. Schon vier Tage später sind die ersten drei Jungtiere tot. Doch die Umweltverbände halten ihr Versprechen. Sie reichen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen die proaktive Regulierung von Wolfsrudeln ein. Mitte Dezember müssen die beiden Kantone Graubünden und Wallis deshalb per sofort mit den Abschüssen aufhören. Vorübergehend. Bis das Bundesverwaltungsgericht ein definitives Urteil gefällt hat.
Die Kantone Wallis und Graubünden sowie das UVEK wehren sich gegen den vorübergehenden Jagd-Stopp. Legen Gesuche um Aufhebung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerden der Umweltverbände ein. Doch sie blitzen ab.
Am Freitag hat das Gericht nun entschieden, dass die Interessen an einem vorübergehenden Jagd-Stopp überwiegen. Damit dürfen im Wallis 10 Wölfe und in Graubünden 23 Wölfe vorerst doch nicht geschossen werden. Aber eben: nur vorerst. Bis das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, ob Rösti bei der Erstellung der Teilrevision des Jagdgesetzes die rechtlichen Vorgaben eingehalten hat.
Und sowas ist Bundesrat...
Ich befürchte dass dieser Stil sein Regierungskonzept ist.