Eigentlich könnte alt Bundesrat Pascal Couchepin mittlerweile das Nichtstun geniessen – erst recht in seinem Ferienhaus in der französischen Provinz Languedoc. Doch dafür ist der charismatische FDP-Mann aus Martigny VS zu wissbegierig. Noch vor dem telefonischen Interview am Morgen hat sich Couchepin beim lokalen Bäcker nach den neusten Dorfgeschichten erkundigt und länger mit seiner Schwiegertochter, einer Wissenschafterin, gesprochen. Thema: die schwarzen Löcher im Universum.
Herr Couchepin, in Kürze feiern
wir den 1. August. Was verbinden
Sie mit diesem Tag?
Pascal Couchepin: Er erinnert mich
immer zuerst an meine Kindheit. Im
Wallis waren gerade etwa dann die
Aprikosen reif und meine Mutter hat
zur Feier des Tages jeweils die erste
Aprikosenwähe des Jahres gebacken
– das werde ich nie vergessen.
Wie verbringen Sie den Nationalfeiertag
dieses Jahr?
Ich werde in der Genfer Gemeinde
Veyrier eine Rede halten. Es könnte
meine letzte sein. Es wird nicht einfacher,
immer etwas Neues zu sagen
und vielleicht höre ich ab nächstem
Jahr dann nur noch zu.
Sie kennen Frankreich gut.
Wenn man den 14 juillet mit
dem 1. August vergleicht, ist das
wie Tag und Nacht. Haben wir
ein gestörtes Verhältnis zum Patriotismus?
Das würde ich nicht sagen, aber es ist
gewiss eine andere Prägung. Die Militärparade
auf den Champs-Élysées ist
beeindruckend, so was wäre bei uns
undenkbar. Das Schweizer Verhältnis
zum Vaterland ist viel pragmatischer,
unser Patriotismus identifiziert sich
mehr mit den täglichen Aufgaben des
Staates.
Und mit der Fussballnationalmannschaft.
Ja, ich finde das unsäglich. Wenn man
Fussballspieler als Helden einer Nation
feiert, hat man den gesunden Menschenverstand
verloren. Das ist lächerlich.
So eine WM ist so oberflächlich
wie kaum ein anderes Ereignis – da gilt
es, die Relationen zu wahren. Es freut
mich aber, dass Söhne von Migranten
in der Schweizer Nati den Ton angeben,
das ist ein Zeichen von guter Integration.
Darauf dürfen wir stolz sein.
In Bezug auf das Verhältnis zu
unseren Nachbarländern stehen
wir am Scheideweg. Wo sehen Sie
die Schweiz im Jahr 2020?
Unmöglich zu sagen. Klar ist: Wenn
wir aus der aktuell schwierigen Situation
einen Ausweg finden wollen,
müssen wir aufhören, die EU zu degradieren.
Ich spüre insbesondere in
der Deutschschweiz unglaubliche Antipathie,
ja geradezu Hass gegenüber
Europa. Warum nur? Die EU hat viel
erreicht und ist eine Chance für die
Welt.
Man braucht allerdings nicht weit
zu reisen, um Negativbeispiele zu
sehen.
Dass Italien, Spanien oder Griechenland
in einer tiefen Krise stecken, ist
nicht die Schuld der EU. Diese Länder
haben sich dank ihrer Mitgliedschaft
schnell, wohl zu schnell, entwickelt
und dabei Regeln missachtet.
Jetzt bezahlen sie den Preis dafür.
Ohne die Europäische Union würde
es ihnen noch schlechter gehen.
Bei jeder zusätzlichen Annäherung
an die EU setzt die Schweiz die direkte
Demokratie aufs Spiel.
Ich kann diesen Einwand nicht mehr
hören. Die direkte Demokratie ist nicht
das Ziel, sie ist das Mittel zum Zweck.
Und dieses kann sich auch entwickeln.
Damit rütteln Sie am Fundament
der Schweiz. Keine Kuh ist hierzulande
so heilig wie die direkte
Demokratie.
Die Schweiz gab es schon, bevor es
die direkte Demokratie gab. Man
muss aufhören, sie immer so hochzustilisieren,
sie kann nicht alle unsere
Probleme lösen.
Soll man die Abstimmung vom
9. Februar einfach wiederholen?
Zuerst müssen wir mal festhalten, dass
das Ergebnis ein Zufallsentscheid war,
so knapp war die Ja-Mehrheit. Natürlich
muss man das Votum respektieren,
aber definitiv ist es nicht. Der Bundesrat
ist jetzt beauftragt, eine Lösung
mit der EU zu finden. Eine, die mit der
Personenfreizügigkeit kompatibel ist,
wird es wohl nicht geben. Da wird man
nicht um eine Abstimmung über unser
Verhältnis zur EU herumkommen. Ich
hoffe, dass die Schweizer Bevölkerung
so klug ist, nicht den gesamten bilateralen
Weg auszuhebeln – er ist ein Fundament
unseres Wohlstands.
Sollte die Schweiz dem EWR
beitreten?
Diese Diskussion ist passé. Als einzige
Alternative zum bilateralen Weg sehe
ich einen direkten Beitritt zur EU. Ich
befürworte das nicht, aber sollten wir
den Bilateralismus nun leichtfertig
verspielen, werden die wirtschaftlichen
Konsequenzen so drastisch
sein, dass wir gezwungen wären, die
Beitrittsfrage eines Tages zu stellen.
Ich hoffe, es kommt nicht so weit –
auch weil es unsere Gesellschaft tief
spalten würde.
Ihr ewiger Gegenspieler
Christoph Blocher ...
(Die Telefonverbindung bricht plötzlich
ab, während gut 20 Sekunden
bleibt die Leitung stumm.) Hallo?
Hallo? Ich habe nichts mehr gehört.
Ausgerechnet jetzt, wo wir über Blocher
sprechen wollten. Wahrscheinlich
hat sich sein Geheimdienst eingeschaltet
(lacht herzhaft).
Oder die NSA. Also nochmals:
Blocher hat es einmal mehr allen
gezeigt. Was ist sein Masterplan?
Das ist die grosse Frage. Und ich
glaube, er weiss es selber gar nicht
so genau. Da gibt es ein philosophisches
Problem: Blocher – den ich
übrigens nie als Feind bezeichnen
würde – und seine Gefolgsleute haben
das Gefühl, wenn sie immer
kompromisslos Nein sagen, entsteht
daraus eines Tages ein Ja. Nur
verstehe ich nicht, zu was sie überhaupt
Ja sagen wollen.
Ein anderes Thema, das zurzeit
die Schlagzeilen beherrscht, ist
die Krise in der Ukraine. Sollte
sich die Schweiz stärker von
Russland abgrenzen und Sanktionen
beschliessen?
Wir sind ein kleines Land, wir können
dem Rest der Welt nicht sagen,
wie er sich zu verhalten hat. In diesem
Sinn befürworte ich die Rolle,
welche die Schweiz innerhalb der
OSZE wahrnimmt. Und auch Sanktionen
soll sie mittragen, wenn die
EU oder die USA diese beschliessen.
Der Bundesrat tut aber gut daran,
hier keine Vorreiterrolle einzunehmen.
Welchen Eindruck haben Sie vom
aktuellen Bundesrat?
Von aussen nehme ich die Stimmung
als korrekt wahr. Das ist gut, aber
entscheidend ist die Stimmung innerhalb
des Gremiums. Um das einzuschätzen,
bin ich nun zu weit weg.
Der Bundesrat muss sich fragen, welche
Rolle er einnehmen möchte: Ist
es diejenige eines Schiedsrichters
zwischen den verschiedenen Parteien,
dem Parlament und dem Volk
oder diejenige eines kämpferischen
Players, der sich aktiv in jede Abstimmung
einmischt? Ich bin entschieden
für Letzteres.
Vielleicht fehlen dafür aber mittlerweile
Persönlichkeiten wie Sie,
Blocher oder Calmy-Rey, die sich
auch mal aus dem Fenster lehnen.
Ich äussere mich nicht zu einzelnen
Bundesratsmitgliedern. Klar ist: Vor
einer so kapitalen Abstimmung wie
der Masseneinwanderungsinitiative
wäre mehr Engagement vonseiten
des Bundesrats notwendig gewesen.
Dann hätte es vielleicht auch gereicht,
das Ja abzuwenden.
Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen
Bundesratskollegen?
Es gibt zweimal jährlich ein Treffen
mit dem aktuellen Bundesrat und manchmal begegnet man sich an
Anlässen. Wir haben ein gutes Verhältnis.
Aber wissen Sie, ein alter
Freund hat mir mal gesagt: Freundschaften
schliesst man, bis man 25
Jahre alt ist. Danach ist es schwieriger.
Sie sagten mal in einem Interview,
dass der Genfer Regierungsrat
Pierre Maudet das Zeug
hätte, um Bundesrat zu werden.
Wen sehen Sie sonst noch am
Horizont?
Da gibt es schon ein paar Leute. Im
Gegensatz zu Maudet, der wirklich
ein Ausnahmetalent ist, würde es ihrer
Karriere aber schaden, wenn ich
hier Namen nennen würde.
Wenn man in der Schweizer Mediendatenbank
nach dem Stichwort
«Pascal Couchepin» sucht,
findet man allein für das letzte
Jahr nicht weniger als 582 Treffer ...
Ist das viel oder wenig?
Das ist eine ganze Menge für einen Bundesrat im Ruhestand. Woher dieser Drang zur Öffentlichkeit? Ich werde angefragt. Aber wenn ich unbescheiden sein darf: Ich habe den Eindruck, in vielen Themenfeldern eine Weitsicht zu haben, die sich später bewahrheitet – zum Beispiel bei der Diskussion um die Erhöhung des Rentenalters.
Sie sind nun seit bald fünf Jahren
nicht mehr Bundesrat. Wie
verbringt man da den Alltag?
Ich betreibe mehr Sport als früher,
gehe zum Beispiel jeden zweiten
Tag intensiv spazieren. Ein Glück,
dass meine Gesundheit dies noch
erlaubt. Dann lese ich täglich Zeitungen
in drei Sprachen. Und ich
versuche, bei wissenschaftlichen
Themen am Ball zu bleiben. Langweilig
wird es mir nicht.
Werden Sie auf der Strasse noch
angesprochen?
Das kommt regelmässig vor, ja. Die
Leute sind immer sehr freundlich.
Manchmal merke ich – besonders
wenn ich Zug fahre –, dass mich jemand
anschaut, sich aber nicht getraut,
mich anzusprechen. Dann
komme ich ihnen zuvor und breche
das Eis. So habe ich schon die
interessantesten Diskussionen geführt.