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Gesellschaft & Politik

«Fussballer als Helden zu feiern, ist lächerlich»

Die Politik beschäftigt Pascal Couchepin auch heute noch. Hier in einer Aufnahme aus dem Jahr 2008 im Walliser Ferienort Grimentz.
Die Politik beschäftigt Pascal Couchepin auch heute noch. Hier in einer Aufnahme aus dem Jahr 2008 im Walliser Ferienort Grimentz.Bild: KEYSTONE
Alt Bundesrat Pascal Couchepin

«Fussballer als Helden zu feiern, ist lächerlich»

Als Bundesrat war er nie ein Mann der leisen Töne – und auch in der Pension will Pascal Couchepin daran nichts ändern. Vor dem 1. August ein Gespräch zur Lage der Nation.
28.07.2014, 07:3028.07.2014, 10:28
ANTONIO FUMAGALLI / Aargauer Zeitung
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Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Eigentlich könnte alt Bundesrat Pascal Couchepin mittlerweile das Nichtstun geniessen – erst recht in seinem Ferienhaus in der französischen Provinz Languedoc. Doch dafür ist der charismatische FDP-Mann aus Martigny VS zu wissbegierig. Noch vor dem telefonischen Interview am Morgen hat sich Couchepin beim lokalen Bäcker nach den neusten Dorfgeschichten erkundigt und länger mit seiner Schwiegertochter, einer Wissenschafterin, gesprochen. Thema: die schwarzen Löcher im Universum.

Herr Couchepin, in Kürze feiern wir den 1. August. Was verbinden Sie mit diesem Tag?
Pascal Couchepin:
Er erinnert mich immer zuerst an meine Kindheit. Im Wallis waren gerade etwa dann die Aprikosen reif und meine Mutter hat zur Feier des Tages jeweils die erste Aprikosenwähe des Jahres gebacken – das werde ich nie vergessen.

Wie verbringen Sie den Nationalfeiertag dieses Jahr?
Ich werde in der Genfer Gemeinde Veyrier eine Rede halten. Es könnte meine letzte sein. Es wird nicht einfacher, immer etwas Neues zu sagen und vielleicht höre ich ab nächstem Jahr dann nur noch zu.

Sie kennen Frankreich gut. Wenn man den 14 juillet mit dem 1. August vergleicht, ist das wie Tag und Nacht. Haben wir ein gestörtes Verhältnis zum Patriotismus?
Das würde ich nicht sagen, aber es ist gewiss eine andere Prägung. Die Militärparade auf den Champs-Élysées ist beeindruckend, so was wäre bei uns undenkbar. Das Schweizer Verhältnis zum Vaterland ist viel pragmatischer, unser Patriotismus identifiziert sich mehr mit den täglichen Aufgaben des Staates.

Pascal Couchepin
Das Leben als Politiker wurde Pascal
Couchepin in die Wiege gelegt: Sein
Vater war Walliser Grossrat, sein
Grossvater Nationalrat und sein Urgrossvater
Gemeindepräsident.
Nach dem Lizenziat der Rechtswissenschaften
gehörte Couchepin zuerst
dem Gemeinderat von Martigny
an und war später Stadtpräsident.
1979 wurde der FDP-Mann in den
Nationalrat, 1998 in den Bundesrat
gewählt. Während seiner elf Jahre in
der Landesregierung stand er dem
Volkswirtschafts- und später dem Innendepartement
vor. Der heute 72-
Jährige ist verheiratet und Vater von
drei Kindern.

Und mit der Fussballnationalmannschaft.
Ja, ich finde das unsäglich. Wenn man Fussballspieler als Helden einer Nation feiert, hat man den gesunden Menschenverstand verloren. Das ist lächerlich. So eine WM ist so oberflächlich wie kaum ein anderes Ereignis – da gilt es, die Relationen zu wahren. Es freut mich aber, dass Söhne von Migranten in der Schweizer Nati den Ton angeben, das ist ein Zeichen von guter Integration. Darauf dürfen wir stolz sein.

«Die direkte Demokratie ist nicht das Ziel. Sie ist das Mittel zum Zweck, das sich entwickeln kann.»

In Bezug auf das Verhältnis zu unseren Nachbarländern stehen wir am Scheideweg. Wo sehen Sie die Schweiz im Jahr 2020?
Unmöglich zu sagen. Klar ist: Wenn wir aus der aktuell schwierigen Situation einen Ausweg finden wollen, müssen wir aufhören, die EU zu degradieren. Ich spüre insbesondere in der Deutschschweiz unglaubliche Antipathie, ja geradezu Hass gegenüber Europa. Warum nur? Die EU hat viel erreicht und ist eine Chance für die Welt.

Man braucht allerdings nicht weit zu reisen, um Negativbeispiele zu sehen.
Dass Italien, Spanien oder Griechenland in einer tiefen Krise stecken, ist nicht die Schuld der EU. Diese Länder haben sich dank ihrer Mitgliedschaft schnell, wohl zu schnell, entwickelt und dabei Regeln missachtet. Jetzt bezahlen sie den Preis dafür. Ohne die Europäische Union würde es ihnen noch schlechter gehen.

«Die Schweiz gab es schon, bevor es die direkte Demokratie gab», sagt Pascal Couchepin und findet, man müsse aufhören, sie hochzustilisieren.
«Die Schweiz gab es schon, bevor es die direkte Demokratie gab», sagt Pascal Couchepin und findet, man müsse aufhören, sie hochzustilisieren.Bild: KEYSTONE

Bei jeder zusätzlichen Annäherung an die EU setzt die Schweiz die direkte Demokratie aufs Spiel.
Ich kann diesen Einwand nicht mehr hören. Die direkte Demokratie ist nicht das Ziel, sie ist das Mittel zum Zweck. Und dieses kann sich auch entwickeln.

Damit rütteln Sie am Fundament der Schweiz. Keine Kuh ist hierzulande so heilig wie die direkte Demokratie.
Die Schweiz gab es schon, bevor es die direkte Demokratie gab. Man muss aufhören, sie immer so hochzustilisieren, sie kann nicht alle unsere Probleme lösen.

Soll man die Abstimmung vom 9. Februar einfach wiederholen?
Zuerst müssen wir mal festhalten, dass das Ergebnis ein Zufallsentscheid war, so knapp war die Ja-Mehrheit. Natürlich muss man das Votum respektieren, aber definitiv ist es nicht. Der Bundesrat ist jetzt beauftragt, eine Lösung mit der EU zu finden. Eine, die mit der Personenfreizügigkeit kompatibel ist, wird es wohl nicht geben. Da wird man nicht um eine Abstimmung über unser Verhältnis zur EU herumkommen. Ich hoffe, dass die Schweizer Bevölkerung so klug ist, nicht den gesamten bilateralen Weg auszuhebeln – er ist ein Fundament unseres Wohlstands.

Sollte die Schweiz dem EWR beitreten?
Diese Diskussion ist passé. Als einzige Alternative zum bilateralen Weg sehe ich einen direkten Beitritt zur EU. Ich befürworte das nicht, aber sollten wir den Bilateralismus nun leichtfertig verspielen, werden die wirtschaftlichen Konsequenzen so drastisch sein, dass wir gezwungen wären, die Beitrittsfrage eines Tages zu stellen. Ich hoffe, es kommt nicht so weit – auch weil es unsere Gesellschaft tief spalten würde.

Ihr ewiger Gegenspieler Christoph Blocher ...
(Die Telefonverbindung bricht plötzlich ab, während gut 20 Sekunden bleibt die Leitung stumm.) Hallo? Hallo? Ich habe nichts mehr gehört. Ausgerechnet jetzt, wo wir über Blocher sprechen wollten. Wahrscheinlich hat sich sein Geheimdienst eingeschaltet (lacht herzhaft).

Oder die NSA. Also nochmals: Blocher hat es einmal mehr allen gezeigt. Was ist sein Masterplan?
Das ist die grosse Frage. Und ich glaube, er weiss es selber gar nicht so genau. Da gibt es ein philosophisches Problem: Blocher – den ich übrigens nie als Feind bezeichnen würde – und seine Gefolgsleute haben das Gefühl, wenn sie immer kompromisslos Nein sagen, entsteht daraus eines Tages ein Ja. Nur verstehe ich nicht, zu was sie überhaupt Ja sagen wollen.

Blocher und Couchepin während einer Medienkonferenz 2007.
Blocher und Couchepin während einer Medienkonferenz 2007.Bild: KEYSTONE

Ein anderes Thema, das zurzeit die Schlagzeilen beherrscht, ist die Krise in der Ukraine. Sollte sich die Schweiz stärker von Russland abgrenzen und Sanktionen beschliessen?
Wir sind ein kleines Land, wir können dem Rest der Welt nicht sagen, wie er sich zu verhalten hat. In diesem Sinn befürworte ich die Rolle, welche die Schweiz innerhalb der OSZE wahrnimmt. Und auch Sanktionen soll sie mittragen, wenn die EU oder die USA diese beschliessen. Der Bundesrat tut aber gut daran, hier keine Vorreiterrolle einzunehmen.

Welchen Eindruck haben Sie vom aktuellen Bundesrat?
Von aussen nehme ich die Stimmung als korrekt wahr. Das ist gut, aber entscheidend ist die Stimmung innerhalb des Gremiums. Um das einzuschätzen, bin ich nun zu weit weg. Der Bundesrat muss sich fragen, welche Rolle er einnehmen möchte: Ist es diejenige eines Schiedsrichters zwischen den verschiedenen Parteien, dem Parlament und dem Volk oder diejenige eines kämpferischen Players, der sich aktiv in jede Abstimmung einmischt? Ich bin entschieden für Letzteres.

Vielleicht fehlen dafür aber mittlerweile Persönlichkeiten wie Sie, Blocher oder Calmy-Rey, die sich auch mal aus dem Fenster lehnen.
Ich äussere mich nicht zu einzelnen Bundesratsmitgliedern. Klar ist: Vor einer so kapitalen Abstimmung wie der Masseneinwanderungsinitiative wäre mehr Engagement vonseiten des Bundesrats notwendig gewesen. Dann hätte es vielleicht auch gereicht, das Ja abzuwenden.

«Hallo? Hallo? Jetzt hat sich wahrscheinlich Blochers Geheimdienst eingeschaltet.»

Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Bundesratskollegen?
Es gibt zweimal jährlich ein Treffen mit dem aktuellen Bundesrat und manchmal begegnet man sich an Anlässen. Wir haben ein gutes Verhältnis. Aber wissen Sie, ein alter Freund hat mir mal gesagt: Freundschaften schliesst man, bis man 25 Jahre alt ist. Danach ist es schwieriger.

Sie sagten mal in einem Interview, dass der Genfer Regierungsrat Pierre Maudet das Zeug hätte, um Bundesrat zu werden. Wen sehen Sie sonst noch am Horizont?
Da gibt es schon ein paar Leute. Im Gegensatz zu Maudet, der wirklich ein Ausnahmetalent ist, würde es ihrer Karriere aber schaden, wenn ich hier Namen nennen würde.

Wenn man in der Schweizer Mediendatenbank nach dem Stichwort «Pascal Couchepin» sucht, findet man allein für das letzte Jahr nicht weniger als 582 Treffer ...
Ist das viel oder wenig?

Das ist eine ganze Menge für einen Bundesrat im Ruhestand. Woher dieser Drang zur Öffentlichkeit? Ich werde angefragt. Aber wenn ich unbescheiden sein darf: Ich habe den Eindruck, in vielen Themenfeldern eine Weitsicht zu haben, die sich später bewahrheitet – zum Beispiel bei der Diskussion um die Erhöhung des Rentenalters.

Jetzt auf

Sie sind nun seit bald fünf Jahren nicht mehr Bundesrat. Wie verbringt man da den Alltag?
Ich betreibe mehr Sport als früher, gehe zum Beispiel jeden zweiten Tag intensiv spazieren. Ein Glück, dass meine Gesundheit dies noch erlaubt. Dann lese ich täglich Zeitungen in drei Sprachen. Und ich versuche, bei wissenschaftlichen Themen am Ball zu bleiben. Langweilig wird es mir nicht.

Werden Sie auf der Strasse noch angesprochen?
Das kommt regelmässig vor, ja. Die Leute sind immer sehr freundlich. Manchmal merke ich – besonders wenn ich Zug fahre –, dass mich jemand anschaut, sich aber nicht getraut, mich anzusprechen. Dann komme ich ihnen zuvor und breche das Eis. So habe ich schon die interessantesten Diskussionen geführt.

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