Die Bombe platzt in der Innenhand. Sie umschliesst ein Smartphone. Der Mann, dem es gehört, wälzt einen Zahnstocher im Mund. Es ist knapp nach 10 Uhr vormittags. Auf dem Display leuchtet gerade die Meldung auf: «Bözberg kommt für Atom-Endlager noch stärker in Betracht! Andere Gebiete scheiden aus.»
Der Zahnstocher rollt flugs in den anderen Mundwinkel. Der Mann kaut nervös darauf herum – wegen eines ganz anderen Problems.
Der Atomgüsel kümmert niemanden am Stammtisch im «Bären» auf dem Bözberg (Passhöhe 569 Meter ü. M.). Früher ein Fernfahrer-Stopp, heute Znüni-Termin einer einheimischen Schar. Geraucht wird immer noch. Verhandelt wird Alltagskram.
Erst als wir an ihren Tisch treten und explizit danach fragen, reden sie. Eher maulfaul am Anfang, lebhafter mit jedem Satz (und jedem kernigen Witz), überlaut gegen Schluss. Da sagt der Mann mit dem Zahnstocher, vielleicht sarkastisch, vielleicht in vollem Ernst: «Gut, konnten wir mal darüber reden. Jetzt fühle ich mich besser.»
Alle – ausnahmslos alle – finden es weiter gar nicht schlimm, käme der auf Millionen Jahre hinaus strahlende Müll in den Bözberg. Alle leben sie hier – «im Gegensatz zu denen im Säli hinten», höhnen sie. Im ominösen Säli des «Bären» fand am 20. Mai 2010 die Gründerversammlung des KAIB statt, des Vereins «Kein Atommüll im Bözberg».
Fast nur Auswärtige seien da gesichtet worden, sagen die Rentner vom Stamm, «Leute aus dem Fricktal, aus Waldshut, sogar ein Stadtammann». «Meinst du Geri Müller?», fragt einer. Das führt zu einem Kurzausbruch von dunkler Wut, schlüpfrigen Zoten, unklarer Drohung.
Es mag sonderbar sein, aber das Zurück aufs Thema Sondermüll beruhigt die Gemüter sofort. «Irgendwo muss der Mist ja hin», sagen sie oft. «Das dauert noch eine ganze Weile; uns geht's nix mehr an», sagen sie noch öfter – bis jemandem in der Runde schwant: «Die späteren Generationen freilich ...». Die ganze Welt will nichts dergleichen, warum in aller Welt Bözberg?
«Der Aargau hat schon die AKWs, nun muss er auch den Müll nehmen. Man kippt eine Sauerei anderen Leuten nicht einfach vor die Füsse.»
Am Wellenberg leistete die Bevölkerung indes erbitterten Widerstand. «Dort fliesst das Wasser rein, in die Schweiz», erklärt einer, «bei uns fliesst es raus; die Schwaben haben dann den Dreck.»
Was halten sie von den Leuten im Dorf, die gegen das Endlager kämpfen? «Wir wissen, wo ihre Plakate stehen.» Eine Frau hebt wortlos die Hand, alle Finger gespreizt – aha, die Gegner seien nur eine Handvoll. Warum wagen sie sich, die Leute vom Stamm, angeblich die schweigende Mehrheit, trotzdem nicht aus der Deckung? «Nicht empfehlenswert», sagt ein Senior, «du könntest Prügel kassieren – oder wirst sofort als Gemeindeammann aufgestellt.»
Keiner will namentlich genannt werden als jemand, den Sondermüll nicht schreckt, gar nicht zu reden davon, dass die Kollegin ein Foto ihrer Runde macht. «Gehen Sie ins Altersheim!» Was hat das mit der NAGRA zu tun? «Jene Generation hat uns die AKWs eingebrockt.» Kennen sie wirklich keine Furcht? «Sobald die bohren, fresse ich Jodtabletten», sagt einer, «die bekamen wir ja bereits.» Und ein Letzter: «Die Grünen wissen ja auch nicht, wie man Sonnenkollektoren entsorgt.»
In der weit verzweigten, fusionierten Gemeinde sind Leute auf der Strasse kaum zu finden. In Oberbözberg, jetzt überraschend enger gefasst als Standort eines möglichen Endlagers, öffnet uns Kurt Flückiger die Tür.
Der Klauenschneider und Laientheaterspieler ist ein bodenständiger Mann. Nächstes Jahr wird seine Familie seit 100 Jahren hier ansässig sein. Wer könnte besser sagen, ob der neuste Entscheid das Dorf spalten wird?
Das glaube Flückiger nicht: «Im Moment herrscht grosser Lärm, aber das wird bald im Sand verlaufen.» Beziehungsweise im Lehm, in jener Schicht tief unterm Boden, weicher als Fels, die nach Meinung der NAGRA geeignet sein soll zur Endlagerung der Abfälle. «Seit Menschengedenken», sagt Flückiger, «haben die Leute dieses Material hier zum Bau ihrer Häuser verwendet» – darunter er auch beim eigenen.
Flückiger verweist auf die vielen Vereine und rühmt deren Zusammenarbeit. Tatsächlich ist die Vereinsdichte in Bözberg schweizweit am grössten. Hält dieses Netz aber auch einer Zerreissprobe stand, die jetzt bevorstehen könnte? Gemeindeammann Peter Plüss hatte ganz in der Nähe ja eben bei einer Pressekonferenz gemeint, dass er «jetzt mit einer Reaktion der Bevölkerung rechnet. Bisher konnte man sich die Sache noch nicht richtig vorstellen.»
Flückiger antwortet so: Der einst geplante Steinbruch, wogegen es starke Opposition gegeben hatte, «hätte einen weit grösseren Eingriff bedeutet als ein Tiefenlager». Stossend sei jedoch, wenn bei jedem kleinen privaten Bau verlangt werde, das Abwasserproblem vorgängig zu lösen, grosse Vorhaben wie Atomkraftwerke jedoch unbekümmert um die Folgen und den Abfall durchgezogen werde.
Sieht Flückiger keine Gefahr? «Ich ergreife bald den gefährlichsten Beruf, den es gibt», antwortet er. Nanu, etwa in Zusammenhang mit Atomkraft? «Rentner», fährt er fort, «das hat noch keiner überlebt.» Auf den Humor schlägt der gestrige Entscheid offenbar (noch) nicht.
Am Schluss sprechen wir mit zwei entschiedenen Gegnern des Endlagers: Geri Wyttenbach und Sacha Schenker, eine Generation auseinander, jedoch beide in Oberbözberg wohnhaft, beide Vorstandsmitglieder im KAIB.
Von Vertrauen in den Gang der Dinge ist bei ihnen wenig zu spüren, im Gegenteil: Sie vermuten, dass der Bözberg auserkoren werde, weil hier gewissermassen psychologisch die Geologie zu weich ist, sprich: Nicht viel Widerstand der Bevölkerung zu erwarten sei.
Aber irgendwo muss das Giftzeug am Ende doch hin? «An den sichersten Standort, der möglich ist», antworten Schenker und Wyttenbach: «Es ist aber nicht gewährt, dass dieser sicherste Ort tatsächlich auch gesucht wird.» Sondern nur der bequemste. «Im Rahmen dessen, was vom Verein aus möglich ist», werden sie ihren Kampf verstärken.
Auf den Bözberg könnten mithin Erschütterungen zukommen, die auch die gleichmütigen Senioren im «Bären» überraschen dürften. Und es wären keine Vibrationssondierungen der NAGRA wie bisher. Bereits gestern Abend liefen bei uns Mails ein, die u.a. erklärten: «Jetzt haben wir keine Angst mehr!» (Nordwestschweiz)