Der Schweizer Mittelstand ist eine Illusion
«Wenn Politiker vom Mittelstand sprechen, denken sie sicher nicht an uns», sagt Josua T. Neben ihm am Esstisch sitzt seine Frau Michelle. Sie nickt. Die Kinder spielen in der Stube nebenan. Der Bub ist neun, das Mädchen zwei Jahre alt.
8'800 Franken. So viel verdienen Josua und Michelle zusammen im Schnitt im Monat. Brutto. Gleich viel wie der alleinstehende Lehrer Ives A. aus Zürich. Gemäss dem Bundesamt für Statistik gehören beide Haushalte damit zum Schweizer Mittelstand. Die Lebensrealität der Familie T. und von Ives A. könnte allerdings nicht unterschiedlicher sein. Ein Vergleich.
Privatinternat oder Kochlehre
«Auf dem Land erben viele Wohneigentum oder Kapital. Wir eben nicht», sagt Josua. Seine Eltern führten einen Bauernhof. Diesen übernahm sein Bruder. Josua absolvierte eine Kochlehre, während welcher er Michelle kennenlernte. Nach der Ausbildung zog er zu ihr nach Deutschland.
Michelle ist als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in Hessen aufgewachsen. Sie sagt: «Ich startete mit 300 Euro ins Erwachsenenleben.» Schon damals: selbst erarbeitet. Als Jugendliche.
Als die Familie T. vor drei Jahren zurück in Josuas Heimat im Berner Oberland zog, begann sie finanziell abermals bei null. Der Umzug hatte alles Ersparte verschlungen.
Der Alleinstehende Ives A. wuchs ohne finanzielle Sorgen auf. Akademikereltern. Musikunterricht. Skiferien. Strandurlaub. Privatinternat in Süddeutschland.
Lehrer oder Stundenlöhner
Ives A. unterrichtet heute in einem 90-Prozent-Pensum an einer Sekundarschule. Daneben studiert er Recht und arbeitet gelegentlich im Stundenlohn in einer Kanzlei. Nicht aus Geldnot. Aus Interesse.
Ein Auto besitzt Ives keines. Bewusst nicht. Wegen des Klimawandels. Und weil er im Alltag keines braucht. Zur Arbeit fährt er zehn Minuten mit dem E-Trottinett, in der Freizeit Zug. 2.-Klasse-GA.
Michelle T. besitzt ein Halbtax, fährt aber meist mit dem E-Bike zur Arbeit – das sei effizienter, sagt sie. Sie ist Hauptverdienerin der Familie und arbeitet in einem KMU mit einem 100-Prozent-Pensum. Ihr Bruttolohn beträgt 6'238 Franken. Ein guter Lohn, findet das Paar. Doch für vier Personen reicht er nicht.
Josua T. betreut unter der Woche die Kinder, arbeitet daneben flexibel im Stundenlohn. Am Wochenende: eine Nachtschicht als Securitas. Unter der Woche: auf dem Bau, in der Forst- und Landwirtschaft. Sein Durchschnittspensum: 50 Prozent.
Der Stundenlohn enthält sämtliche Zulagen: Ferien, Feiertage, Krankentaggeld. Wird Josua krank oder kann nicht arbeiten, hat die Familie Ende Monat weniger Geld in der Haushaltskasse.
Damit wissen Josua und Michelle T. umzugehen. Auch mit der Herausforderung, dass Josuas Arbeitgeber aufgrund seines tiefen Pensums nicht in seine berufliche Vorsorge einzahlen. Nur eine Sorge ist für den zweifachen Vater omnipräsent:
Für solche Notfälle hat das Paar 10'000 Franken zusammengespart. Drei Jahre hat es gedauert, diesen Notgroschen anzulegen.
Hauptausgaben: Gesundheit und Miete
Ihre Krankenversicherung haben Josua und Michelle mit einer Franchise von 2'000 Franken abgeschlossen. Bewusst. Damit andere Dinge wie Ausflüge oder Ferien einmal im Jahr drin liegen.
Rund 900 Franken müssten Josua und Michelle monatlich für die Krankenversicherung der Familie ausgeben. Dank Prämienverbilligung, die der Kanton Bern ihnen automatisiert gewährt, sind es nur 600 Franken. Ohne diese Unterstützung müsste das Paar monatlich fast gleich viel für Krankenkassenprämien ausgeben wie für ihre Miete.
Die 4-Zimmerwohnung der Familie T. kostet 1'150 Franken im Monat, plus 50 Franken für Strom. Dafür bekommen sie: 120 Quadratmeter, Balkon, Parkplatz, Estrich. Allerdings: im Dachstock. Im Sommer wird es im alten Gebäude unerträglich heiss, im Winter schaffen es die Heizung samt Ofen kaum, die Wohnung auf angenehme Temperaturen zu wärmen.
Josua und Michelle sind trotzdem zufrieden. Mit ihrer Wohnung. Und mit ihrem Leben. Michelle sagt:
Immer wieder betont das Paar die «grossen Privilegien», die ihre Familie geniessen würde. Was die beiden damit meinen: In der Umgebung haben sie viele Freunde, Familie und Bekannte. Dank Josuas Verwurzelung, seinem Engagement in Vereinen und der Feuerwehr. «Ohne dieses Umfeld hätten wir nie so eine günstige Wohnung ergattert», sagt Michelle. Und ohne Josuas Familie hätten sie niemanden, bei dem sie die Kinder in die Obhut geben könnten, wenn Josua auf der Arbeit mehr gebraucht wird.
Derlei Abhängigkeiten und finanzielle Sorgen sind Ives A. fremd. Und doch finden sich Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Haushalten: Auch zu Ives grössten Ausgabenposten gehören – abgesehen von 9000 Franken Steuern im Jahr – Miete und Gesundheitskosten.
Für seine 2,5 Zimmer bezahlt Ives monatlich 1'980 Franken. Nebenkosten inklusive. 56 frisch sanierte Quadratmeter plus Sitzplatz bekommt er dafür. Direkt bei einer Badi gelegen, an der Zürcher Goldküste, wo er aufgewachsen ist.
Ives hat genauso wie Familie T. eine Krankenversicherung mit einer hohen Franchise von 2'500 Franken abgeschlossen. Ebenfalls aus dem Gedanken heraus, Geld zu sparen. «Mit 31 Jahren bin ich noch fit und muss selten zum Arzt», sagt Ives. Monatlich kommt er dennoch auf Gesundheitskosten von 500 Franken. Weil er eine private Zusatzversicherung fortzahlt, die einst seine Eltern für ihn abgeschlossen haben.
Sparen für Wohneigentum oder Ferien
Die Familie T. und Ives A. haben eine weitere Gemeinsamkeit: Sie sparen. Allerdings mit völlig anderem Aufwand. Und anderen Zielen.
Für Ives A. bedeutet Sparen: Kleidung secondhand kaufen, Möbel günstig online ersteigern, Lebensmittel reduziert einkaufen. Restaurantbesuche, mal eine Pizza bestellen, das alles liegt trotzdem drin. Nicht so bei der Familie T.
Josua und Michelle schauen, dass sie nur höchst selten auswärts essen. Ausflüge unternimmt die Familie meistens in der Umgebung und mit dem Auto. Die Familienaktivitäten: Wandern, Brettspiele. Am besten Dinge, die keinen oder nur wenig Eintritt kosten, keine teure Ausrüstung verlangen und bei denen man die Verpflegung selbst mitbringen kann.
Um die vierköpfige Familie mit nur 1'200 Franken im Monat ernähren zu können, hat Josua T. einen Essensplan erstellt. Mit Menüvorschlägen für jeden Wochentag. Das spart nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Gedanken. «Für mich ist es eine persönliche Challenge, jeden Monat mit dem Wochenplan etwas mehr Geld zu sparen», sagt Josua und lacht.
Theoretisch würde es für die Familie T. auch drinliegen, etwas mehr Geld für Essen auszugeben. Doch Josua und Michelle ist es wichtig, jedes Jahr den vollen Betrag in ihre 3. Säule einzahlen zu können. Und Geld für langfristige Ziele zurückzulegen. Ihr langfristiges Sparziel: ein neues Auto. Und für vier bis sechs Wochen als Familie zu verreisen. Nach Übersee. Als Belohnung, wenn Michelle bald ihr nebenberufliches Fernstudium in Betriebsökonomie abgeschlossen hat.
130 Kilometer weiter östlich, am Zürichsee, kann sich Ives A. den Luxus, auf den die Familie T. hin spart, jedes Jahr leisten. Mehrfach. Er sagt:
Als Lehrperson habe er viele Ferienwochen und auch verlängerte Wochenenden zur Verfügung. Um diese voll ausnutzen zu können, bereite er seine Lektionen bewusst während der Schulwoche vor, wodurch er auf mehr als 50 Arbeitsstunden pro Woche komme.
Geld zurücklegen kann Ives A. dennoch. Mit dem Ziel, eines Tages Wohneigentum zu besitzen. «Das ist durchaus realistisch», sagt Ives. Wenn auch nicht hier an der Zürcher Goldküste.
Anders sieht es bei der Familie T. aus. Michelle sagt:
Das politische Label Mittelstand
Gemäss Definition des BFS gehört eine vierköpfige Familie wie die Familie T. mit zwei Kindern unter 14 Jahren zum Mittelstand, wenn sie brutto zwischen 8'666 und 18’569 Franken im Monat verdient. Alleinstehende wie Ives A. zählen zum Mittelstand, wenn sie zwischen 4'126 und 8'826 Franken im Monat verdienen. Die Familie T. gehört damit zum unteren Rand des Mittelstands. Ives A. zum oberen, mit guten Chancen, in die Oberschicht aufzusteigen.
Zu den grössten Sorgen von Schweizer Familien gehören: die steigenden Kosten für die Krankenversicherung, die Inflation, die Gesundheit und die Wohnkosten. Die Krankenkassenprämien beschäftigen Familien mit einem Haushaltseinkommen von bis zu 100'000 Franken brutto besonders stark.
Gedanken um ihre Finanzen müssen sich beide Haushalte machen. Finanzielle Sorgen hingegen hat nur Familie T. Josua und Michelle müssen viel Disziplin, Zeit und Gedanken investieren, um ihren Kindern den Lebensstandard zu gewährleisten, den sie sich für die Familie wünschen. Einen Lebensstandard, der für Ives A. selbstverständlich ist.
In der politischen Diskussion bleibt das Label der beiden Haushalte dennoch dasselbe: Mittelstand. Und das hat Vorteile. Allerdings nicht für den Mittelstand. Oder wie es der Wirtschaftssoziologe Daniel Oesch beschreibt:
Kurzum: Mittelstand ist nicht gleich Mittelstand. Der Schweizer Mittelstand ist vor allem das, was wir als Gesellschaft darunter verstehen wollen. Und so ist es bezeichnend, dass sich Ives A. als Teil davon sieht. Josua und Michelle T. mit ihren beiden Kindern hingegen nicht. Michelle sagt: «In meiner Vorstellung heisst Mittelstandsfamilie: Ein Haus besitzen und zwei Autos in der Garage stehen haben. Nicht: Jeden Franken umkehren müssen, damit am Ende des Monats Geld für die Altersvorsorge übrig bleibt.»
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