Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Fast 100 Jahre nachdem der Brite Alexander Fleming mit der Entdeckung des Penicillins eine medizinische Revolution in Gang gesetzt hatte, drohen die Antibiotika zur stumpfen Waffe gegen bakterielle Infekte zu werden. Weltweit nehmen Fälle, bei denen die Wirkstoffe nicht mehr anschlagen, zu – auch in der Schweiz.
Die Folgen solcher Resistenzen sind gravierend, weil damit vermeintlich gut behandelbare Infekte wieder lebensbedrohlich werden können. Hausärzte verschreiben Antibiotika gegen Lungenentzündungen oder Blutvergiftungen. Jeder vierte Spitalpatient erhält sie, meist gegen Komplikationen oder um Krebskranke vor Infektionen nach einer Chemotherapie zu schützen.
Das gelingt zunehmend schlechter. Das Schweizerische Zentrum für Antibiotikaresistenzen geht davon aus, dass pro Jahr rund 300 Menschen an Infektionen sterben, die Antibiotika nicht mehr eindämmen konnten – im Jahr 2010 waren es erst halb so viele gewesen. Die Zeit drängt. Denn seit rund 20 Jahren sind weltweit keine neuen Antibiotika mehr auf den Markt gekommen. Und die Ärzte brauchen dringend neuen Stoff.
Doch die Prioritäten liegen derzeit anders. Hiesige Ärzte und Spitäler wissen aktuell nicht einmal, wie lange es überhaupt noch genügend konventionelle Antibiotika zu kaufen gibt. Das Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) warnte kürzlich, es drohe eine schwere Mangellage bei Antibiotika in Tablettenform. Deshalb müssen per 1. März die Pflichtlager aushelfen. Besonders betroffen von der Versorgungskrise ist die Wirkstoffgruppe der Penicilline.
«Wir spüren die Nachwehen der Pandemie», sagt Monika Schäublin, Leiterin der Geschäftsstelle Heilmittel beim BWL, zur «Schweiz am Wochenende». Wegen der Lockdowns seien weniger Leute krank geworden und hätten weniger Antibiotika benötigt. Deshalb sei die Nachfrage gesunken. Gleichzeitig hätten sich Anbieter aus dem wenig lukrativen Markt zurückgezogen. Diese Folgen werden jetzt, am Ende der Pandemie, sichtbar. «Der Bedarf stieg Ende 2022 wieder sprunghaft an - und das in einem Markt, der schon vor der Pandemie am Limit gelaufen ist», sagt Schäublin. Zurzeit fehlen je nach Wirkstoff bis zu 20 Prozent des schweizweiten Bedarfs an Antibiotika.
In den Spitälern waren die Antibiotika-Infusionen bereits seit längerem knapp. Jetzt bekommen auch Patienten, die ein Rezept für Tabletten oder Kapseln erhalten, die Antibiotika-Krise zu spüren.
Die aktuellen Engpässe und die Entwicklung von Resistenzen hängen eng zusammen: Wenn Spitäler und Ärzte nicht mehr an passende Wirkstoffe kommen, müssen sie vermehrt auf sogenannte Breitband-Alternativen zurückgreifen – was wiederum die Entwicklung multiresistenter Keime fördert.
Einer, der diese Entwicklung mit Sorge verfolgt, ist Rudolf Blankart. Der 42-Jährige ist nicht nur Professor für Regulierungsfragen an der Uni Bern, er arbeitet auch am Schweizerischen Institut für Translationale Medizin und Unternehmertum und präsidiert den sogenannten «Runden Tisch Antibiotika». Bei einem Kaffee erzählt Blankart, wie er bereits vor sechs Jahren einen Appell an den Bundesrat verschickte, um auf die Dringlichkeit einer sicheren Versorgung mit wirksamen Antibiotika hinzuweisen.
Als Erstes reagierte Finanzminister Ueli Maurer und lud zu einem einstündigen Gespräch. Ein ganzes Jahr musste Blankart warten, bis er bei Gesundheitsminister Alain Berset einen Termin erhielt. Schliesslich sprach Blankart mit fünf Bundesräten und allen politischen Parteien. Zwar investierte der Bundesrat danach Geld in verschiedene Projekte und lancierte einen nationalen Aktionsplan – doch konkrete Massnahmen, wie die Schweiz die Versorgung mit alten Antibiotika besser sicherstellen und die Entwicklung neuer Antibiotika fördern könnte, fehlen bisher. Eine Überprüfung der bisherigen Anstrengungen will der Bundesrat diesen Sommer vorlegen.
«Wir müssen rasch reagieren. Die Entwicklung und Herstellung neuer Antibiotika kann bis zu zehn Jahre dauern», sagt Blankart. Angesichts der sich ausbreitenden Resistenzen könne man nicht weiter zuwarten. Wie ernst er die Lage sieht, zeigt der Ton der Medienmitteilungen, die er als Präsident des Vereins «Runder Tisch Antibiotika» verfasst. Von einer «stillen Pandemie» und «einem Wettlauf gegen krankheitserregende Bakterien, den wir zu verlieren drohen», ist die Rede.
Statt einfach den Preis für ein Antibiotika um das x-Fache zu erhöhen, damit die Pharmafirmen wieder mehr in neue Produkte investieren, plädiert er für innovative finanzielle Anreize. So könnte der Staat beispielsweise eine Prämie beim Markteintritt eines neuen Antibiotikums bezahlen oder längerfristig Zuschüsse leisten, damit ein Produkt auf dem Markt bleibt. «Hier ist die Politik gefordert, eine Lösung zu finden», sagt Blankart. Die Schweiz könne als Testmarkt sowie als Pharmastandort eine Vorreiterrolle spielen.
Um die Versorgungssicherheit für Antibiotika zu verbessern, schlägt Blankart langfristige Verträge mit den Herstellern vor. «Bund oder Kantone sollten mit Antibiotika-Herstellern Vereinbarungen abschliessen, in denen sich die Firmen zur Lieferung bestimmter Produkte verpflichten.» Liefern die Unternehmen nicht, werden Sanktionen fällig. Im Gegenzug zahlt der Staat Preise, die es den Herstellern erlauben, in Massnahmen zur Sicherung ihrer Lieferketten zu investieren.
Die Industrie kritisiert seit Jahren die Folgen des ruinösen globalen Preiswettbewerbs. Der österreichische Novartis-Länderchef erklärte, dass heute «eine Therapie-Einheit eines potenziell lebensrettenden Antibiotikums so viel kostet wie ein Kaugummi». Die niedrigere Marge im Antibiotika-Geschäft ist ein Grund, warum Novartis ihre Tochterfirma Sandoz noch dieses Jahr abspaltet.
Dennoch zeigt gerade der Fall Sandoz, dass staatliches Engagement Wirkung zeigen kann. Österreich unterstützt das Sandoz-Werk im österreichischen Kundl mit 50 Millionen Euro. Es ist die einzige verbleibende Produktionsstätte in Europa, die noch Penicillin vom Wirkstoff bis zur Tablette herstellt. Im Gegenzug für die staatlichen Zuschüsse hält das Unternehmen für zehn Jahre am Standort fest und fährt selbst die Investitionen hoch.
Einen Schritt weiter gehen Forderungen von SP-Exponenten, die Sandoz gerne verstaatlichen möchten. Daneben kursieren Ideen, die Produktion wieder nach Europa zurückzuholen. Das möchte Blankart differenzierter angehen: Durchdachte finanzielle Anreize seien effizienter, als eine ganze Industrie durch Regularien wieder nach Europa zurückzuholen, findet er.
Der staatlich administrierte Aufbau von Produktionsanlagen und die Rekrutierung von Fachpersonal seien nicht nur sehr teuer, sondern dauerten auch viel zu lange. «Das ist eine Utopie.» Zu globalisiert sei die Herstellung von Antibiotika. Ein Grossteil der chemischen Vorprodukte kommt heute aus Indien und China.
Beim Bundesamt für Gesundheit heisst es, man unterstütze verschiedene Programme, die Forschung und Entwicklung förderten. Auch zu Anreizsystemen seien dabei Vorabklärungen getroffen worden.
«Jedoch werden neue Antibiotika für den globalen Markt entwickelt und diese Entwicklung ist sehr teuer. Die Schweiz als kleines Land kann mit einem nationalen Anreiz allenfalls einen kleinen Beitrag leisten», sagt Sprecherin Katrin Holenstein. Deswegen brauche es für die Entwicklung von neuen Antibiotika, aber auch bei neuen Anreizmodellen, international koordinierte Ansätze. Man stehe in Kontakt mit dem «Runden Tisch Antibiotika» und sei offen für entsprechende Vorstösse.
Es ist die Konjunktur einer jeden Krise: Sobald sie wie jetzt für die Normalbürger spürbar wird, steigt der Druck. Die Chancen stehen besser als auch schon, dass Rudolf Blankart nicht nochmals ein Jahr auf einen Termin mit dem Gesundheitsminister warten muss. (aargauerzeitung.ch)