Der Fachkräftemangel in der Schweiz hat einen Rekordstand erreicht. Das teilte der Personalvermittler Adecco kürzlich mit. Stark betroffen sei besonders das Gesundheitswesen. Hier würden nach wie vor zu wenig Fachkräfte ausgebildet, ausserdem seien die Arbeitsbedingungen «herausfordernd», so Adecco.
Es gibt allerdings einen weiteren Faktor, der den Fachkräftemangel anheizt: Das Gesundheitswesen wächst in der Schweiz rasant. Soeben hat das Bundesamt für Statistik neue Zahlen der Spitäler veröffentlicht: Sie beschäftigten letztes Jahr über 230’000 Mitarbeitende, die sich fast 180'000 Vollzeitstellen teilten. Das ist eine Zunahme von 12.8 Prozent innerhalb von sieben Jahren.
Die Spitalärztinnen und -ärzte sowie die Administration gehören mit einem Plus von je 20 Prozent zu den Bereichen, die am stärksten gewachsen sind. Beim Pflegepersonal ist die Zunahme mit 8.5 Prozent in derselben Zeitspanne geringer.
Dass es mehr Personal für die medizinische Versorgung braucht, ist klar: Die Bevölkerung wächst, die Menschen werden älter. Das alleine vermag den Boom des Gesundheitswesens aber nicht zu erklären: Während die Einwohnerzahl der Schweiz zwischen 2015 und 2020 um rund 4 Prozent zugenommen hat, sind die Gesundheitskosten um 12 Prozent gestiegen.
Der Gesundheitsökonom Stefan Felder von der Universität Basel erklärt die Diskrepanz mit unserem Wohlstand: Die steigenden Einkommen liessen die Gesundheitsbranche überproportional wachsen. Mit zunehmendem Wohlstand komme es bei klassischen Konsumgütern wie Wohnung, Kleidung oder Verkehrsmitteln zu einer Sättigung, worauf sich der zusätzliche Konsum in den Gesundheitsbereich verlagere. «In der Schweiz besteht eine hohe Zahlungsbereitschaft für Gesundheit», sagt Felder.
Als Beispiele nennt er die hohe Nachfrage im Fitness- und Schönheitsbereich, aber auch Vorsorgebehandlungen wie Brustkrebs-Screenings. Laut Felder schaden sie mehr, als sie nutzen. Denn: Unerwünschte Auswirkungen in der Früherkennung sind vor allem Überdiagnosen. Das bedeutet, dass gutartige Veränderungen fälschlicherweise als schädlich eingestuft werden und die Frau folglich als Krebspatientin behandelt wird. Diese Haltung ist unter Fachleuten indes umstritten. Die Krebsliga schreibt, die Vorteile der Mammografie-Screening-Programme würden die Nachteile aus heutiger Sicht überwiegen.
Die Entwicklung wird offenbar durch einen weiteren Faktor befeuert: Wegen der Versicherungsdeckung fehlen finanzielle Anreize, weniger Leistungen in Anspruch zu nehmen. Felder ortet das Problem in der Grundversicherung, die aus seiner Sicht zu viele Leistungen abdeckt. «Unsere obligatorische Krankenpflegeversicherung bietet ein unglaubliches Rundumpaket für jeden», sagt der Ökonom.
Die Zahl der durchgeführten Behandlungen ist eindrücklich: Die ambulanten Konsultationen haben seit 2015 um 34 Prozent zugenommen und liegen nun bei über 24 Millionen. Die stationären Fälle sind um 2.4 Prozent gestiegen. Die Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich ist politisch gewollt, um Kosten zu sparen.
Während andere Wirtschaftszweige dank der Automatisierung in der gleichen Zeit mehr produzieren, ist das Gesundheitswesen arbeitsintensiv geblieben. Untersuchungen durchführen, Patienten betreuen – all das macht weiterhin der Mensch, der sich aber nicht wie eine Maschine optimieren lässt. Gleichzeitig sinkt die Arbeitszeit des ärztlichen Personals laut dem Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) tendenziell. Es braucht also mehr Personal, um die gleichen Leistungen zu erbringen.
«Diese Entwicklung ist richtig und notwendig, da Ärztinnen und Ärzte nicht mehr bereit sind, 80 Stunden oder mehr pro Woche zu arbeiten», sagt Philipp Thüler vom VSAO. Mit durchschnittlich 56 Stunden pro Woche sei die Arbeitsbelastung der Spitalärztinnen und -ärzte noch immer viel zu hoch und letztlich illegal. Der Verband fordert deshalb eine Arbeitswoche aus 42 Stunden Dienstleistung an Patientinnen und Patienten und 4 Stunden strukturierter Weiterbildung.
Weil die Schweiz zu wenig eigene Fachkräfte ausbildet, hat sie sich in den vergangenen Jahren vermehrt auf ausländisches Personal verlassen.
Besonders ausgeprägt ist das bei den Spitalärztinnen und -ärzten: 70 Prozent der neu entstandenen Vollzeitäquivalente seit 2010 haben ausländische Ärztinnen und Ärzte übernommen. Der Anteil der Spitalärzteschaft mit Schweizer Pass sank von 60 auf 51.5 Prozent.
Durchbrüche in der Ausbildungsförderung und der Kostensenkung sind der Politik in den letzten Jahren kaum gelungen. Felder plädiert für höhere Selbstbehalte, damit die Menschen weniger Behandlungen in Anspruch nehmen. Aber auch der Leistungskatalog in der Grundversicherung solle bereinigt werden. Es brauche wieder mehr private Zusatzversicherung, deren Bedeutung in den letzten Jahren abgenommen habe.
Das würde dazu führen, dass die Versicherten Gesundheitskosten wieder vermehrt selber tragen müssten.
In die entgegengesetzte Richtung will die SP gehen. Das Ziel müsse es sein, eine Grundversorgung im ganzen Land und mit Zugang für alle zu erhalten und auszubauen, heisst es in einem Positionspapier der Partei. Nicht das Portemonnaie solle darüber entscheiden, wer welche Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen könne. Die Sozialdemokraten möchten ein solches System über eine öffentliche Krankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien finanzieren. (aargauerzeitung.ch)
Kenne Leute vom Notfall und Rettungsdienst, ist leider tatsächlich so.