Die katholische und die reformierte Kirche sind seit einigen Jahren alarmiert, weil viele Mitglieder ihnen den Rücken kehren oder den Austritt geben. Die Leitungsgremien versuchen mit viel Aufwand die Ursachen zu ergründen und «Therapien» auszuhecken, um den Schwund zu stoppen oder gar den Trend umzukehren.
Die katholische Kirche fand rasch plausible Erklärungen für die vielen Austritte in jüngster Zeit. Die Berichte über die Missbrauchsskandale liessen das Image in den Keller und die Austrittszahlen in die Höhe schnellen.
Diese seien regelrecht explodiert, nachdem im September 2023 die Vorstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht worden war, sagte damals Urs Brosi, Generalsekretär des Dachverbandes der römisch-katholischen Kirchen.
Diese Analyse scheint aber zu kurz zu greifen, denn die jüngsten Erhebungen zeigen, dass der Trend nach unten weiter anhält, obwohl die Medien nur noch selten die grossen Schlagzeilen hervorholen.
Ein Hinweis, dass die Austrittswelle System hat, zeigen die Zahlen bei der reformierten Kirche. Auch sie leidet in ähnlicher Weise unter den Austritten, obwohl ihr Ruf in den letzten Jahren kaum gross Schaden genommen hat.
Ein Grund liegt darin, dass junge Leute die Gottesdienste als nicht besonders sexy empfinden. Deshalb wurden intern Diskussionen geführt, ob sich die Kirchen erneuern und die Gottesdienste attraktiver gestalten sollen.
Vorbild wurden trendige charismatische Freikirchen, die ihre Gottesdienste mit poppiger Livemusik garnieren und die Predigten in einer jugendgerechten Sprache halten.
Der Spielraum ist für die beiden Landeskirchen aber klein. Einerseits können ältere und konservative Pfarrer nicht aus ihrer Haut fahren und Gottesdienste in Events umwandeln. Andererseits würden sie die älteren Gläubigen - ihr Stammpublikum - vergraulen.
Konkret: Ob ein Facelifting der Gottesdienste ein junges Publikum anziehen würde, ist ungewiss. Ziemlich sicher ist aber, dass die verbliebenen älteren Gläubigen ihre Glaubensheimat verlieren würden. Ein klassisches Dilemma, das sich kaum auflösen lässt.
Neue Erhebungen zeigen sogar, dass heute auch viele ältere Leute Glaubenszweifel hegen.
Schauen wir uns die aktuellen Zahlen an. 2023 waren noch 31 Prozent der Schweizer Bevölkerung katholisch, 19 Prozent reformiert. In den letzten 50 Jahren ist die Zahl der Katholiken um ein Drittel geschrumpft, diejenige der reformierten sogar um 60 Prozent. Seit 2022 ist die Zahl der Religionslosen grösser als diejenigen der Katholiken.
Das Bundesamt für Statistik hat bei einer aktuellen Umfrage unter 14'5000 Personen festgestellt, dass sich knapp die Hälfte der Schweizer Bevölkerung weder als religiös noch spirituell einschätzt.
Die Untersuchung gibt auch eine klare und überraschende Antwort auf die Frage, weshalb die Austritte weiterhin kontinuierlich zunehmen: Viele «Fahnenflüchtige» hegen grundsätzliche Glaubenszweifel. Nur noch 38 Prozent der Befragten glauben, dass es einen einzigen Gott gibt. Vor zehn Jahren waren es noch 46 Prozent.
Ähnlich gross ist die Überraschung, dass selbst bei den älteren Personen der Glaube an einen Gott erheblich abgenommen hat, nämlich von rund 60 auf 45 Prozent. Aber auch die Zahl der Leute, die an eine höhere Macht glauben, ging in den letzten zehn Jahren von rund 24 auf knapp 21 Prozent zurück.
Die Säkularisierung schreitet also weiter voran, und drängt die Glaubensgemeinschaften in die Defensive. Das bedeutet, dass die christlichen Kirchen im Kern erschüttert werden.
Denn Leute, die die Existenz eines Gottes oder einer höheren Macht bezweifeln, lassen sich weder mit Reformen noch mit metaphysischen Versprechen in die Kirche locken. Mit anderen Worten: Die älteren Generationen, die noch das Gros der Gottesdienstbesuchenden stellen, sterben weg, und die Jungen entfremden sich immer mehr vom christlichen Glauben und den Kirchen.
Bricht also das religionslose Zeitalter an? Weit gefehlt. Die Untersuchung zeigt, dass für die Mehrheit der Bevölkerung Religion und Spiritualität nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Nur mit dem christlichen Gott können viele nichts mehr anfangen.
Für die christlichen Kirchen ist dies eine Hiobsbotschaft. Sie können sich abstrampeln und strecken, wie sie wollen, die Kirchen werden sich weiter leeren.