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«Ich habe mehrmals versucht, mir das Leben zu nehmen – auch jetzt spielt der Suizidgedanke noch eine zentrale Rolle»

Bei manchen Patienten kommt die Ursache der Depression erst nach Jahren ans Licht. (Symbolbild)
Bei manchen Patienten kommt die Ursache der Depression erst nach Jahren ans Licht. (Symbolbild)Bild: shutterstock

«Ich habe mehrmals versucht, mir das Leben zu nehmen – auch jetzt spielt der Suizidgedanke noch eine zentrale Rolle»

Vor 15 Jahren spürt Anisa Demir die ersten Symptome. Bis sie jedoch begreifen kann, dass sie unter Depressionen leidet, vergehen Jahre. Die gebürtige Bosnierin sprach mit uns über ihr Leben in der Schweiz und ihren stetigen Kampf mit der Krankheit.
27.06.2015, 15:0127.06.2015, 15:17
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Wann hat das mit Ihren Depressionen angefangen? 
Anisa Demir*: Wann das genau war, kann ich gar nicht sagen, aber die ersten Symptome tauchten wohl um das Jahr 2000 herum auf.

Was waren das für Symptome?
Es hat mit Schlafstörungen angefangen. Und damit, dass ich mich immer mehr zurückgezogen habe. Dann habe ich bestimmt zwei Jahre lang Schlaf- und Beruhigungsmittel genommen. Zu dem Zeitpunkt bin ich aber sicher noch nicht auf die Idee gekommen, dass ich Depressionen haben könnte.

Dann ist es aber schlimmer geworden? 
Ja, ich habe einfach weitergearbeitet. Habe immer gedacht, dass ich nur übermüdet bin. Und eines Tages konnte ich morgens einfach nicht mehr aufstehen. Der Wecker hat geklingelt, aber es ging nichts mehr. Ich habe einfach nur noch geweint. Ich wusste gar nicht, wo so viele Tränen herkommen können.

«In meinen Augen war ich gar nicht krank.»
Anisa Demir

Und dann sind Sie zu einem Psychologen gegangen? 
Ja, mein Hausarzt hat mich zu einem geschickt. Nach einer 20 Monate langen Psychotherapie hat mir mein Hausarzt dann gesagt, dass er für mich eine IV-Rente beantragen würde. Aber das konnte ich mir gar nicht vorstellen. 

Warum nicht?
In meinen Augen war ich ja gar nicht krank. Ich habe wirklich gedacht, dass ich weiterarbeiten könnte, und habe im Mädchenhaus Zürich angefangen. Aber da musste ich schnell merken, dass es doch nicht klappt. Ich habe immer gezittert, bin zum Teil während Beratungen in Tränen ausgebrochen und hatte nicht mehr die nötige Distanz. Ich habe mit den Klienten mitgelitten. Und dann habe ich begriffen, dass es wirklich nicht mehr geht.

Wissen Sie, was der Auslöser für die Depressionen war? 
So ganz genau weiss ich das nicht. Ich denke, es gibt viele Faktoren aus meiner Vergangenheit und aus meinem Berufsleben, die da eine Rolle spielen könnten.

Sie sind in Ex-Jugoslawien zur Welt gekommen, wie und wo sind Sie aufgewachsen? 
Ich bin in Bosnien aufgewachsen, bin dort zur Schule gegangen und habe Sozialarbeit und Sozialpolitik studiert.

Wann sind Sie in die Schweiz gekommen? 
Im Jahr 1986 ist die Situation im ehemaligen Jugoslawien immer schwieriger geworden, mein Bruder hat damals schon in der Schweiz gelebt und mich gefragt, ob ich nicht nachkommen wolle. Ich könne mich hier ja um seinen Sohn kümmern. Die Idee fand ich gut, aber ich wollte mich nicht einfach nur um meinen Neffen kümmern, sondern richtig arbeiten.

Ist Ihnen das gelungen? 
Ja, schon nach kurzer Zeit konnte ich anfangen, in einem Altenheim zu arbeiten. Ich habe zwar nicht viel verdient, aber ich war froh, einen Job zu haben.

Wie ging es Ihnen zu Beginn hier in der Schweiz? 
Ich habe mir viel Mühe gegeben, möglichst schnell Deutsch zu lernen. Nach einiger Zeit habe ich geheiratet und so ist auch mein Mann in die Schweiz gekommen. 1992 ist der Krieg in Bosnien ausgebrochen. Dann haben wir versucht, meine Mutter herzuholen. Wir mussten dafür immer wieder nach Serbien reisen. Am Ende haben wir viel Geld bezahlt und so hat es dann geklappt. 

«Meinen Bruder musste ich anhand von ein paar Knochen identifizieren.»
Anisa Demir

Und der Rest der Familie?
Mein zweiter Bruder war vom Erdboden verschwunden. Viele Jahre später habe ich erfahren, dass er in einem Konzentrationslager getötet wurde. Bei einem Massengrab musste ich ihn dann anhand von ein paar Knochen identifizieren.

Wie ging es dann weiter für Sie in der Schweiz? 
Als ich noch in dem Altenheim gearbeitet habe, bin ich zum ersten Mal schwanger geworden. Als ich einer alten Frau beim Aufstehen helfen wollte, hat es sich angefühlt, als würde etwas in mir reissen – da habe ich das Kind verloren. Beim zweiten Versuch ging alles gut: Dann habe ich meine erste Tochter zur Welt gebracht. Mein Mann und ich hatten aber viele Probleme.

Inwiefern? 
Obwohl er am Anfang kaum Deutsch gesprochen hat, konnte er nach zwei Jahren in der Schweiz in seinem Job als Operationspfleger arbeiten. Aber er hat angefangen zu spielen. Immer wieder ist er nach Konstanz gefahren und hat unser ganzes Geld im Casino verspielt. Manchmal ist er tagelang verschwunden. Eines Tages stand ich im Supermarkt und wollte Milchpulver für unsere zweite Tochter kaufen, die inzwischen auf die Welt gekommen war. Da habe ich in mein Portemonnaie geschaut und es war leer. Er hatte mir mein letztes Geld genommen.

«Ich bin leer»
Pro Infirmis begleitet immer mehr Schweizerinnen und Schweizer, die durch psychische Krankheiten aus ihrem Alltag und der Gesellschaft fallen. Rund ein Drittel der Dossiers hat psychische Ursachen. Mit ihrer Sensibilisierungs-Kampagne «Ich bin leer» will die Organisation darauf aufmerksam machen, dass psychische Krankheiten von aussen nicht sichtbar sind, sich für Betroffene aber gleich «behindernd» auswirken können wie physische Krankheiten. 

Was haben Sie dann gemacht? 
Ich habe ihm ein Ultimatum gestellt. Wir haben es mit einer Eheberatung versucht. Aber mein Mann wollte schlicht nichts ändern. Also habe ich ihn vor die Tür gesetzt – mit all seinen Sachen. Darauf folgte ein zwei Jahre langer Scheidungskrieg. Am Ende hatte ich das durchgestanden und auch das Sorgerecht für meine beiden Töchter bekommen.

Haben Sie dann noch immer für so wenig Geld im Altenheim gearbeitet?
Nein, dort war ich nur knapp zwei Jahre. In der Zwischenzeit hatte ich erst in einem Hotel und dann für die HEKS, das Rote Kreuz und die Caritas gearbeitet. Die brauchten Übersetzer für die ganzen Flüchtlinge aus meiner Heimat. Und später habe ich dann ein Angebot in einem Frauenhaus bekommen.

«Ich habe immer gerne anderen Menschen geholfen. So konnte ich meine eigenen Sorgen unterdrücken.»
Anisa Demir

Sie sind immer im sozialen Bereich tätig gewesen? 
Ja, ich glaube das ist auch ein Teil meiner Krankheit. Ich habe ein Helfersyndrom. Ich habe immer gerne anderen Menschen geholfen und mit viel Einsatz gearbeitet. So konnte ich meine eigenen Sorgen und Ängste aus der Vergangenheit unterdrücken und vergessen.

Im Frauenhaus haben Sie dann mehr verdient? 
Ja, ich hatte nur in dem Altenheim so wenig Geld bekommen. Aber in dem Frauenhaus waren wir total unterbesetzt. Dort, wo heute 15 Frauen arbeiten, waren wir damals gerade mal sieben. Man konnte es sich nicht leisten, krank zu sein. Aber weil es so anstrengend war, haben die meisten aufgegeben – das ganze Team wurde während meiner Zeit dort einmal komplett ausgetauscht. Und dann kam es auch noch zu diesem schlimmen Mordanschlag.

Was für ein Mordanschlag? 
Eigentlich hatten nur die Leute vom Personal und die Bewohnerinnen einen Schlüssel für das Frauenhaus. Ein Mann hat sich als Anwalt einer Bewohnerin ausgegeben und wurde von einer anderen hereingelassen. Als meine Arbeitskollegin und ich nachschauen wollten, ob alles in Ordnung ist, haben wir nur noch gesehen, wie der Mann mit einem Messer auf die Frau eingestochen hat. Sie hatte zwei kleine Kinder, das eine war sie gerade am Stillen. Alles war voller Blut. Kurz darauf hat das dann mit meinen Schlafstörungen angefangen.

Glauben Sie, dass dieses Ereignis der Auslöser für Ihre Krankheit war?
Ich denke, es waren viel mehr Faktoren, die da eine Rolle gespielt haben. Ich bin jetzt seit zehn Jahren in Therapie und erst vor zwei Jahren hat eine Psychologin herausgefunden, dass der wirkliche Ursprung meiner Krankheit vielleicht auch in meiner Kindheit liegen könnte. Was das genau ist, versuchen wir gerade erst zusammen aufzuarbeiten. Ich bin stark traumatisiert und habe so viele Dinge verdrängt.

Was ist alles passiert, seitdem Sie zum ersten Mal bei einem Therapeuten waren? 
Sehr viel. Mit der Zeit ist es immer schlimmer geworden. Es gab eine Zeit, in der habe ich nicht mehr geduscht, mich nicht mehr gepflegt. Ich wollte einfach nur noch schlafen. Einfach alleine sein, an nichts denken und schlafen. Ich habe fünf längere Aufenthalte in Kliniken hinter mir, habe mehrmals versucht, mir das Leben zu nehmen. Das letzte Mal im Jahr 2013. Und auch jetzt spielt der Suizidgedanke eine sehr zentrale Rolle in meinem Leben. Es ist ein Auf und Ab.

«Ich bin nicht mehr in der Lage, Emotionen zu empfinden.»
Anisa Demir

Wie geht es Ihnen jetzt? 
Im Moment geht es ganz gut, aber ich bin nicht mehr in der Lage, Emotionen zu empfinden. Ich kann mich nicht freuen, ich kann aber auch nicht traurig sein. Neulich ist im Zug direkt neben mir ein Mann an einem Herzinfarkt gestorben. Ich habe dabei nichts empfunden. Und als ich an der Beerdigung meiner Schwägerin war, habe ich gedacht, dass eigentlich besser ich dort liegen sollte. Die Frau meines Bruders hatte immerhin Freude am Leben gehabt.

Wie sieht Ihr Alltag aus? 
Ich lebe zu Hause allein. Meine grössere Tochter hat noch lange bei mir gewohnt, inzwischen ist sie ausgezogen. Das ist auch gut so. Durch den Abstand ist unser Verhältnis wieder besser geworden. Meine Töchter haben mir lange die Schuld an vielen Dingen gegeben. Inzwischen haben sie aber begriffen, wie es mir geht, und sie spüren, sobald ich wieder in eine schlechtere Phase rutsche, und versuchen dann, mir zu helfen.

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Und wie werden Sie betreut? 
Ich gehe in eine Tagesklinik, dort gibt es Beschäftigungs- und auch Therapiemöglichkeiten. Ausserdem erledigt Pro Infirmis all den Papierkram für mich. Ich bin nicht mehr in der Lage, meine finanziellen Angelegenheiten zu klären. Ich habe mich damals verschuldet, habe Dinge gekauft, die ich gar nicht brauchte und völlig den Überblick verloren. 

«Ich träume heute noch davon, dass ich wieder arbeite. Es ist so schwer, ganz auszusteigen.»
Anisa Demir

Das passt eigentlich gar nicht zu Ihrer Vergangenheit.
Genau. Ich – die immer alles im Griff hatte und in meiner sozialen Tätigkeit das Leben so vieler Menschen geregelt hatte – habe plötzlich nichts mehr auf die Reihe bekommen. Ich habe wie im Halbschlaf gelebt – alles fühlte sich an, als wäre es ein einziger langer Traum. Auch jetzt muss ich mir alles aufschreiben, sonst schaffe ich es nicht mal, meine Termine einzuhalten. Und trotzdem träume ich heute manchmal noch, dass ich wieder arbeiten würde. Es ist so schwer, ganz auszusteigen.

Wie offen gehen Sie mit der Krankheit um? 
Es ist ganz schwer zu sagen, «ja, ich habe Depressionen». Die Menschen, die mir nahe stehen, wissen es. Aber wenn ich mit anderen Leuten rede, vermeide ich das Thema. Ich lebe ohnehin sehr zurückgezogen. Wenn ich beispielsweise in einen Zug steige, suche ich immer einen Platz, wo es keine Menschen gibt. Ich habe wegen der Krankheit auch Freunde verloren. 

Wie das? 
Eine sehr enge Kollegin konnte damit einfach nicht umgehen und hat den Kontakt zu mir abgebrochen. Nach der Trennung von meinem Mann habe ich einen neuen Partner gefunden – als ich noch gesund war. Doch als ich krank wurde, konnte er das einfach nicht verstehen. «Dir geht es doch gut, du siehst doch ganz normal aus», hat er damals zu mir gesagt. Er hat nicht gemerkt, dass ich nicht mal mehr ein Mittagessen kochen konnte. Diese Liebesbeziehung ist dadurch kaputtgegangen. 

Stellen Depressionen in der Schweiz noch immer ein Tabuthema dar? 
Ja, schon. Ich merke, dass die Leute insgesamt auf das Thema komisch reagieren. Neulich habe ich gehört, wie eine Frau ganz empört ihrer Freundin erzählt hat, dass ein gemeinsamer Bekannter in die Psychiatrie musste. «Stell dir das mal vor, seine arme Frau!». Das war für die beiden ein absoluter Skandal. Wenn ich so etwas höre, bekomme ich richtige Schuldgefühle, dass ich krank geworden bin.

Glauben Sie, dass heute mehr Menschen an Depressionen leiden als früher? 
Das weiss ich nicht genau. Was ich aber eindeutig merke, ist, dass die Betroffenen immer jünger werden. In all den medizinischen Einrichtungen treffe ich immer häufiger auf Leute, die Anfang 20 sind und schon an Depressionen leiden.

Was raten Sie anderen Betroffenen? 
Wichtig ist, dass man sich einfach Hilfe sucht. Man sollte es nicht so weit kommen lassen, dass man sich irgendwann das Leben nehmen will. Es ist natürlich sehr schwer, zu akzeptieren. Weil die Krankheit nicht von aussen sichtbar ist. Aber man muss es sich einfach eingestehen.

* Name geändert

Video zur Kampagne «Ich bin leer»:

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2 Kommentare
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Dubliner
27.06.2015 15:46registriert März 2014
Eindrücklich. Wünsche von Herzen alles Gute!
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