Da ist kein stolzer Berg mehr zu sehen, sondern nur noch eine riesige Geröllhalde mit Felsenbrocken. 1.2 Millionen Kubikmeter Stein und Felsen sind in der Nacht vom 15. Juni bis nahe ans grosse Bündner Haus gestürzt. Jetzt bilden diese Felsmassen einen gewaltigen, etwa 15 Meter hohen Schuttkegel.
Beinahe hätte es das alte Schulhaus von Brienz erwischt. Es stehe schon länger leer, erzählt eine Frau aus Tiefencastel, welche für die Gemeinde die Namen derer notiert, die nun erstmals in die Sperrzone eindringen dürfen. So verlassen wie das Schulhaus schon seit Jahren ist, so gespenstisch wirkt das Dorf, das am 12. Mai evakuiert worden ist. Heute Nachmittag dürfen die Bewohner für ein paar Stunden zurück in ihr Haus. «Viel machen können sie dort allerdings nicht. Es hat kein Wasser in den Häusern, und Strom gibt es auch nicht», sagt Daniel Albertin, Gemeindepräsident und Chef des Gemeindeführungsstabs.
Beeindruckend sind die Felsmassen, welche der Sturz der sogenannten Insel ins Tal hat rollen lassen. Wie genau die Felsen gestürzt sind, weiss man nicht, weil in der besagten Nacht beinahe Leermond herrschte und nicht einmal die lichtsensitiven Kameras das nächtliche Drama aufzeichnen konnten. Das ist vielleicht die grösste Groteske dieses Dramas, schauten doch täglich Tausende gebannt auf den Live-Stream. Die Geologen Stefan Schneider und Andreas Huwiler konnten den Sturz aber aufgrund von seismischen Signalen und Tonaufnahmen rekonstruieren.
Vor dem Ereignis hatten die Geologen nicht gewusst, ob die Insel als Bergsturz, Felssturz oder Schuttstrom zu Tal donnern würde. Die Insel hatten sie schon lange auf dem Radar, diese hatte sich mit den Jahren vom Gebirgssystem über Brienz abgekoppelt und bewegte sich immer schneller Richtung Dorf. Am Dienstag vor dem Sturz war sie mit mehreren Metern pro Tag unterwegs, verlangsamte sich dann kurz.
Doch am Mittwoch, dem 15. Juni, stellte der Frühwarndienst eine Beschleunigung fest. Die Geologen sahen kleinere Felsabbrüche und Steinschläge. «Die Basis der ‹Insel› war so stark in Bewegung, dass der Führungsstab im Verlaufe der Donnerstagnacht die Phase blau erklären musste», sagt Schneider. Höchste Alarmstufe.
Um Mitternacht ging es dann schnell. Innert vier bis fünf Minuten rutschte die Insel ab in Form einer Kombination von Schuttstrom und Felssturz. Auf den Schuttstrom stürzte darüber liegendes Dolomitgestein nach. «Zum Glück war es kein Bergsturz», sagt Schneider. Dann wären die Steine noch weiter gerollt als bis vor das Schulhaus und hätten das Dorf mindestens teilweise zerstört.
Glück im Unglücksdrama. Albertin ist erleichtert, so wie die Bewohner, die kaum mehr auf die Rückkehr warten können. Und da besteht grosse Hoffnung: Nächste Woche wird es wohl so weit sein, sagen sowohl der Gemeindepräsident wie auch die beiden Geologen. Zwei Arbeiter schliessen im Rücken der drei Wasserschläuche über die Strasse. Für die Rückkehr müssen zuerst die zerstörten Wasserleitungen wieder instand gestellt werden, auch das Stromnetz muss repariert werden.
Völlige Normalität wird es aber auch nächste Woche noch nicht geben. Sondern erst «Phase gelb», was bedeutet, dass die Bevölkerung immer bereit sein muss, das Dorf wieder zu verlassen. Die abgebrochene Insel war nur ein Teil des gesamten Brienzer Grossrutsches. In Bewegung ist dabei eine Fläche von 1.8 Quadratkilometern, auf der auch das ganze Dorf steht. Diese dauernde Verschiebung führt dazu, dass die Gebäude Risse erhalten oder sogar abgebrochen werden müssen.
«Der Grossrutsch ist nicht vorbei», sagt Huwyler. Der Fokus der Geologen liegt nun auf dem Plateau über der abgebrochenen Insel. Das ist eine Gesteinsmasse von 2 bis 4 Millionen Kubikmeter. «In der Nacht des Felssturzes hat sich auch dieses Plateau schneller bewegt», sagt der Geologe. Die stürzende Insel hatte für neue Kräfteverhältnisse gesorgt, weshalb das Plateau zehnmal schneller unterwegs war als sonst. Da wuchs die Angst, dass das Plateaugestein nachrutschen könnte.
Diese Gefahr scheint aber nun vorerst gebannt, die Geschwindigkeit des Plateaus ist nur noch halb so schnell wie vor dem Felssturz. Allerdings hat es bis heute noch nie stark geregnet. Ein starker Regen könnte dazu führen, dass Restgestein der Insel noch ins Tal stürzt. Dieses würde aber auf dem Schuttkegel liegen bleiben.
So liegt dieser Schuttkegel nun recht stabil vor dem Schulhaus. Dahinter führt die Strasse nach Lenz. Ein grosser Findling liegt auf dem Asphalt. «Das ist der Schulweg für die Kinder von Brienz», sagt die Frau aus Tiefencastel. Im Dorf selbst gibt es keine eigene Schule mehr, die Kinder müssen in die romanische Schule nach Lenz. Ob diese Strasse jemals wieder freigeräumt wird, kann der Gemeindepräsident nicht sagen. Wohl eher nicht.
Auch der Geologe Schneider bezweifelt stark, dass nur schon ein Teil des beeindruckenden Schuttkegels irgendwann weggeschafft wird. Er zeigt auf den Hang neben dem Felssturz. «Auch dort stürzte einst der Fels hinunter, heute ist alles wieder bewaldet.» Bis die Felsen und das Geröll der Insel überwachsen sein werden, werden allerdings Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen.
Die Einwohner von Brienz werden das wohl kaum mehr erleben. Sie freuen sich jetzt auf die Rückkehr, wie Albertin sagt. Ihre Sicherheit wird weiterhin laufend durch die Geologen überwacht. Noch mehr Sicherheit soll der Bau eines 40 Millionen Franken teuren Entwässerungsstollens bringen, über den die Gemeinde am 14. Juli abstimmen. Dieser soll in Zukunft den Wasserdruck auf das Gestein im Untergrund des Dorfes senken. «Die Rutschung des Bergs und des Dorfs hängen zusammen», erklärt Huwyler.
Zwei Jahre lang zeigte ein für dieses Projekt gebauter Sondierstollen einen positiven Effekt. «Der Sondierstollen hat dazu geführt, dass sich die Rutschung halbiert hat», sagt der Geologe. Stimmen die Bürgerinnen und Bürger der sieben Albula-Gemeinden zu, kann 2024 mit dem Bau des Entwässerungsstollens begonnen werden.
Dann haben die 84 Einwohner hier hoch über dem Tal eine Chance, weiterhin in diesem Bergdorf zu leben. Auf der Tour durchs verlassene Dorf fällt auf, wie gross das Dorf trotz der kleinen Einwohnerzahl ist. Das hat nichts mit den Einheimischen zu tun, sondern damit, dass die Hälfte aller Gebäude Ferienhäuser sind. Auch die Feriengäste wird die Entwarnung der Geologen freuen. Ihre Häuser haben wegen des Felssturzes sowieso wohl schon deutlich an Wert verloren.
Neben den Menschen werden auch wieder die Tiere zurückkommen, allerdings erst im Herbst, wenn sie von der Alp abgetrieben werden. Bereits jetzt haben die Bauern allerdings grünes Licht, ihre Winterlager mit Heu zu füllen. Das Leben kommt also wieder ins Dorf, dessen Umgebung sich so dramatisch verändert hat. Vielleicht regt sich auch im neben dem Schulhaus liegenden Restaurant Rezzia Viglia wieder etwas. Das ist allerdings schon seit letztem Herbst geschlossen, lange vor der Evakuierung und somit aus anderen Gründen. (aargauerzeitung.ch)