Nichts deutet am Anfang darauf hin, in welch gottverlassenes Nest wir da hinauffahren: Doch die frisch geteerte Kantonsstrasse wird bald schmaler. Die Fahrbahn holpriger. Vertrocknete Kuhfladen zieren den Strassenrand. Da und dort steht ein Heuballen in einer saftig grünen Wiese. Kühe suchen sich ein Schattenplätzchen am Waldrand. Der Siedlungsbrei rund um Thun gerät in Vergessenheit. Dafür rücken die Sieben Hengste, eine schroffe Bergkette, ins Sichtfeld. Autos können jetzt nicht mehr kreuzen.
«Wer hier oben lebt, muss dafür gemacht sein», sagt später Andreas Fahrni, der parteilose Gemeinderat, der uns die Welt von Horrenbach-Buchen erklärt. Eine heile Welt, gewiss. Putzige Bauernhäuser stehen verträumt in einer perfekt gepflegten Landschaft. Wer sich hier nicht anpasst, fällt rasch auf. «Die Menschen sind konservativ», sagt Fahrni. Und arbeitsam. Wer faul ist, sei fehl am Platz. «Wer bei uns wohnt, muss die abgeschiedene Idylle lieben. Bei uns ist es meistens sehr still.»
Tatsächlich: Die Bauerngemeinde im südlichen Emmental ist so richtig ab vom Schuss. Keine Post, keine Arztpraxis, kein Dorfladen. Die Gemeinde ist eine Streusiedlung. Ein Zentrum gibt es nicht. Die einzige Beiz im Dorf hat auf unbestimmte Zeit dichtgemacht. Pächterwechsel. Die Menschen treffen sich am ehesten sonntags in der Kirche, die wie ein Adlerhorst über dem Aaretal thront. Oder im alten Schulhaus, das 2009 mangels Schülern geschlossen werden musste und in welchem die Gemeindeverwaltung untergebracht ist.
Hier ist das Reich von Urs Wandfluh, seit 16 Jahren alleiniger Gemeindeverwalter. Er kennt jeden im Dorf. Und er weiss, wie die Menschen ticken. 80,4 Prozent der Einwohner wählten bei den letzten Nationalratswahlen 2011 die SVP. Das habe sicher auch mit Samuel Graber zu tun, dem SVP-Grossrat aus dem Dorf. Auch Adrian Amstutz, der Fraktionschef der SVP im Bundeshaus aus dem nahen Sigriswil, sei für viele ein Vorbild. «Deren Programm passt einfach zu uns», sagt Wandfluh. Weniger Bauvorschriften, weniger Umweltauflagen, Subventionen für die Bauern. Und vor allem: weniger Ausländer. 94 Prozent der Horrenbacher legten bei der Masseneinwanderungsinitiative ein Ja in die Urne. «80'000 Zuwanderer pro Jahr sind zu viel», sagt Wandfluh.
Horrenbach-Buchen, auf der Schattenseite des Zulgtals gelegen, hat kein Zuwanderungsproblem. Eher kämpft die Gemeinde gegen Abwanderung. Die Einwohnerzahl ist rückläufig. Letztes Jahr seien gleich zwei kinderreiche Familien weggezogen. Das habe man dann schon gespürt. Weil Bauland fehle, sei es schwierig, neue Familien anzulocken. Auch die Steuerlast sei zu hoch, um eine Sogwirkung zu entfalten.
Die Ausländer kann man hier oben an einer Hand abzählen: Momentan wohnen ein Holländer, ein Portugiese und ein Deutscher in der Gemeinde. «Die fallen nicht auf, sie sind bestens integriert», sagt Gemeinderat Fahrni. Für Asylbewerber hingegen sei seine Gemeinde ungeeignet. «Die leben doch lieber in einer Stadt, wo sie unterhalten werden. Hier ist es langweilig. Und man muss chrampfen.»
Thun ist 30 Autominuten entfernt. Nach Bern sind es Dreiviertelstunden. Doch in den Köpfen der Einheimischen ist die Stadt Lichtjahre entfernt.
Horrenbach-Buchen versteht sich als Antiprogramm. Die Schweiz ist hier so, wie sie einst überall war. Bodenständig, bescheiden, bäuerisch. Man will sie bewahren. Europa ist weit weg. Die EU hat keine Freunde. «Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen hier oben haben einen klareren Blick auf den Zustand der Welt als die Städter», sagt Fahrni. Das sehe man bei Abstimmungen immer wieder. Von einem Stadt-Land-Graben will er aber nichts wissen. «Wir sind nicht gegen die Städter. Wir bemitleiden sie eher.» Lärm, Dichtestress, Multikultigesellschaft: Glücklicherweise seien das lauter Fremdwörter im Zulgtal.
Erst als der Journalist nachhakt, fliegen ein paar Giftpfeile in Richtung Kantonshauptstadt. Die linke Berner Kantonsregierung mache eine «katastrophale» Politik. Umweltschutz sei ihr wichtiger als die Entwicklung der Randregionen. Da merke man dann schon, dass das alles Städter seien. Horrenbach-Buchen lebt zu über 60 Prozent vom Finanzausgleich. «Wir sind keine Rolls-Royce-Gemeinde», sagt Verwalter Wandfluh. Im Winter werden die Strässchen nicht einmal schwarzgeräumt. Die Abfallsäcke werden nur alle 14 Tage abgeholt. «Wenn wir wollen, dass nicht alle Menschen in den Städten leben, dann brauchen wir diese Unterstützung.»
Mittlerweile sitzen wir zu dritt am Sitzungstisch im heimeligen Gemeindehaus. Mit Joachim Hermann hat sich der evangelische Dorfpfarrer zu uns gesellt. Ein Zugewanderter. Ursprünglich aus Deutschland, lebt Hermann seit 1973 in der Schweiz. Im Emmental fand er ein Stück heile Welt.
Alles, was aus seiner Sicht die Schweiz sympathisch mache, sei hier mit Händen zu greifen. «Die Leute sind mutiger, sie heiraten schneller, die Familie zählt mehr», sagt der 65-Jährige in perfektem Schweizerdeutsch. Auch er outet sich rasch als grosser Anhänger der SVP. Es gehe nicht um Fremdenfeindlichkeit, aber die Schweiz sei voll. «Wir können nicht immer mehr Leute hineinlassen.» Das müsse der Bundesrat nun der EU klarmachen.
Es ist Mittag. Die drei Männer posieren zum Abschluss vor dem Gemeindehaus – für ein schönes Bild in der Zeitung. Wir verabschieden uns. Da und dort jätet eine Bauersfrau, Hundegebell, die Kirchenglocken läuten. Ansonsten Leere, Stille, Einsamkeit. Ab und an unterbrochen nur von ein paar Tagesausflüglern, die sich mit ihrem Mountainbike die schmale Strasse hochkämpfen. Die Hitze wird drückender. Die Autobahn bringt uns zurück in die Stadt. Wer dort oben lebt, muss dafür gemacht sein. Wie wahr.