Andrij Melnyk ist bekannt dafür, Klartext zu reden. In seiner Zeit als deutscher Botschafter in Berlin – der Posten, den er vor seiner Berufung ins Amt des ukrainischen Vize-Aussenministers bekleidet hatte – sorgte er immer wieder für Aufsehen mit vehementen Forderungen nach Waffenlieferungen. Auch Kritik an der deutschen Politik äusserte er in einer Weise, dass sich Exponenten dieser mehrfach auf den Schlips getreten fühlten.
Umso überraschender war, dass ausgerechnet ein Moment bei Melnyks Auftritt im SRF-«Club» am Dienstagabend am vielsagendsten war, in dem er nichts sagte.
Doch dazu später mehr und von Anfang an: Unter dem Titel «Ukraine-Hilfe: Feige Schweiz?» diskutierte Moderatorin Barbara Lüthi am Dienstagabend mit ihren Gästen vor allem zwei Themen: die Auslegung der Schweizer Neutralität im Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die Schweizer Rolle bei der Verschleierung und Konfiszierung von russischen Oligarchengeldern.
Nebst Andrij Melnyk diskutierten im «Club»:
Andrij Melnyk war höflich und sehr bedacht in seinen Äusserungen. Er brachte keine einzige Forderung oder ein Anliegen an, ohne die Schweiz zu loben oder für das zu würdigen, was sie bereits für die Ukraine getan hat. So beispielsweise als Moderatorin Lüthi Melnyk auf seine Sicht bezüglich der Schweizer Auslegung der Neutralität ansprach:
Er gab sogar SVP-Nationalrat Alfred Heer recht, der zuvor erklärte, dass die Schweiz seit gut 200 Jahren neutral sei und damit gut gefahren sei. Die Schweiz sei zu Recht stolz auf das, was sie erreicht habe, und den Wohlstand, den sie schaffen konnte, so Melnyk.
Dann wird der Ukrainer aber ein erstes Mal deutlich: Die Situation in der Ukraine sei allerdings eine ganz andere als jene bei den zahlreichen Kriegen in der Vergangenheit, bei denen sich die Schweiz herausgehalten hat.
Es sei doch das Gebot der Stunde, dass man da kreativ werden und sich überlegen müsse, wie man die ukrainische Bevölkerung schützen könne – und das sei halt nun mal mit Munition, spielte Melnyk auf die von der Schweiz blockierten indirekten Waffenlieferungen an.
Dafür gab es Zustimmung, auch von Mitte-Ständerat Pirmin Bischof: «Dieser Krieg ist aussergewöhnlich. Es ist das erklärte Ziel einer grossen Nation, eine andere auszuradieren», so Bischof. Und weiter:
SVP-Exponent Alfred Heer vertrat den Standpunkt, dass der Angriffskrieg Russlands definitiv zu verurteilen sei. Moralisch sei er definitiv auf Seiten der Ukraine, die das Opfer in diesem Krieg sei.
Allerdings könne man den Rechtsstaat nicht aus moralischen Gründen aushebeln, so Heer mit Blick auf die Waffenlieferungen. «Wir können nicht die Moral gegen den Rechtsstaat ausspielen. So traurig es ist, aber wir können in einer Demokratie den Rechtsstaat nicht über den Haufen werfen.»
SP-Nationalrat Jon Pult sagte an Heer gerichtet, dass er ihm durchaus glaube, dass er auf Seiten der Ukraine stehe. Doch das gelte offensichtlich nicht für seine ganze Partei: «Ich glaube Ihnen, dass Sie das so anerkennen und die Ukraine als Opfer sehen, aber in Ihrer Partei gibt es ganz andere Figuren. Roger Köppel war in Moskau. Es gibt in der SVP Leute, die Sympathie für das Putin-Regime haben.»
Zeit für Barbara Lüthi, Melnyk wieder in die Diskussion einzubeziehen. Was er von der Aktion der SVP-Fraktion gehalten habe, als diese bei der kürzlichen Rede von Wolodymyr Selenskyj das Parlament verliess, wollte sie wissen.
Melynk antwortete erneut höflich, aber deutlich:
Er glaube durchaus, dass die Schweiz in der Lage sei, eine solche «kreative Lösung» zu finden, wenn es um das Thema Waffen gehe. Entgegen der vielleicht verbreiteten Annahme spiele die Schweiz auch beim Thema Waffen eine wichtige Rolle, sagte Melnyk mit Verweis auf die Milliardenexporte der Schweizer Waffenindustrie.
Auch beim zweiten grossen Thema, das in der Runde diskutiert wurde, der Konfiszierung von russischen Oligarchengeldern, die unter anderem via Schweiz verschleiert werden, machte Melnyk seine Position deutlich. Der Schweizer Nationalrat hat jüngst auf die Schaffung einer auf die Aufspürung dieser Gelder spezialisierten Taskforce verzichtet. Melnyk dazu:
Wie gross die Rolle der Schweiz bei der Verschleierung dieser Gelder tatsächlich ist, darüber gingen die Meinungen in der Runde wieder auseinander. Für Tamedia-Journalist Oliver Zihlmann, der bereits solche versteckten Geldflüsse mit Schweizer Beteiligung aufdecken konnte, ist klar:
Weltweite Netzwerke zur Verschleierung von Oligarchengeldern würden hier in der Schweiz geknüpft, so Zihlmann. Die Schweiz sei eine Weltmacht bei der Strukturierung solcher Netzwerke. Wenn man all diese Daten seit den 70er-Jahren sehe, dann werde klar, welche grosse Rolle Schweizer Banken, Anwälte und Treuhänder dabei spielten und spielen.
Bischof und Heer stellten sich daraufhin auf den Standpunkt, dass man kein Schweiz-Bashing betreiben müsse. Die Schweiz würde ebenfalls sehr viel tun, um diese Netzwerke aufzuspüren. Darin sei man ebenfalls eine Weltmacht, so Bischof.
Melnyk anerkannte den Einsatz der Schweiz, er hoffe jedoch, dass man die noch bestehenden Schlupflöcher beseitigen lasse. Erneut höflich und bedacht.
Ein einziges Mal verliess Melnyk diese diplomatische Bedachtsamkeit – um damit auf den Einstieg zurückzukommen. Es war, als Philosophin Katja Gentinetta ihre Sichtweise zur Neutralität erklärte.
Es schien, als ob Gentinetta Melnyks diplomatisch ungefilterte Gedanken aussprach: Der ukrainische Vize-Aussenminister presste im Hintergrund nur stumm die Lippen zusammen und nickte – und sagte damit gewissermassen mehr als mit seinen mündlichen Statements zuvor.
Gerade das kleine Land mitten in Europa und auch eine Art "Miniatur-Europa", die Schweiz, sollte da sofort wissen, auf welcher Seite in diesem ungleichen Kampf "Goliath gegen David" es zu stehen hat!
Aber die Schweiz hat halt im Laufe ihrer Geschichte auch "gelernt", dass man ohne eigenen König am besten überlebt, wenn man allen anderen Königen seine Dienstleistungen anbietet.
Die Schweiz wurde zur Grossbank der Reichen
Ich denke, die Neutralität ist einer der prägenden Faktoren der Schweiz in den letzten paar 100 Jahren. Dennoch hat sich die Welt gewandelt, die Ausgangslagen sind heute anders. Die Auslegung der CH-Neutralität gehört aufgearbeitet, ganz ohne Schwarz-Weiss Denken. So sind auch "kreative" Lösungen möglich.