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Zum Thema Schweizer Asylwesen flogen in der SRF-«Arena» die Fetzen

Die Diskussion gerät dermassen durcheinander, dass Moderator Sandro Brotz in SRF-«Arena» «Balance» fordert.
Die Diskussion gerät dermassen durcheinander, dass Moderator Sandro Brotz in SRF-«Arena» «Balance» fordert.bild: screenshot srf
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Mit ausgestreckten Armen – Moderator Sandro Brotz stellt «Ordungsantrag» in SRF-«Arena»

Immer mehr Asylsuchende, zu wenig Wohnungen und Ukrainerinnen, die trotz Schutzstatus S keine Stelle finden – was ist los im Schweizer Asylwesen? Zu dieser Frage flogen am Freitag in der SRF-«Arena» die Fetzen.
11.02.2023, 02:5911.02.2023, 17:00
Elena Lynch
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2022 war migrationspolitisch ein herausforderndes Jahr. So sind in der Schweiz vergangenes Jahr 24'500 Asylanträge gestellt worden, hauptsächlich aus Afghanistan, aus der Türkei und Eritrea – fast 10'000 mehr als im Jahr zuvor.

Gleichzeitig haben 74'500 Geflüchtete aus der Ukraine in der Schweiz um den Schutzstatus S ersucht. Im Total macht das 99'000 Personen, die vergangenes Jahr Schutz in der Schweiz gesucht haben – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Anlässlich dessen diskutierten am Freitag

  • SVP-Nationalrat Beni Fischer
  • SP-Nationalrätin Samira Marti
  • Grüne-Nationalrätin Irène Kälin
  • und Luzerner Regierungspräsident Guido Graf von der Mitte

in der SRF-«Arena» unter anderem über die Frage, wie lange der Schutzstatus S noch Sinn macht. Bei seiner Einführung zu Kriegsbeginn vor einem Jahr wurde er erst auf ein Jahr befristet, also bis Frühjahr 2023, und jetzt um ein weiteres Jahr, also bis Frühjahr 2024, verlängert.

Zur Erklärung: Personen mit Status S dürfen direkt nach ihrer Ankunft in der Schweiz arbeiten – im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen, die erst den Ausgang ihres Asylverfahrens abwarten müssen. Erst wenn sie den Status F erhalten, dürfen sie sich eine Stelle suchen.

Die Erwerbsquote bei Personen mit Status S liegt derzeit bei 14,7 Prozent. Sie ist laut Bund deswegen so niedrig, weil die Betroffenen die Sprache noch nicht ausreichen beherrschen oder keine Betreuung für ihre Kinder finden würden.

Bei Personen mit Status F beträgt die Erwerbsquote 48 Prozent. Laut Bund sei sie deswegen höher, weil die Betroffenen schon länger in der Schweiz seien als die Ukrainerinnen und Ukrainer, die erst vor knapp einem Jahr in die Schweiz geflüchtet seien.

SUV und Sozialhilfe

Der Luzerner Regierungspräsident Guido Graf ist in der Frage, wie langer der Status S noch Sinn macht, federführend. Seine Agenda, den Schutzstatus abzuschaffen oder abzuändern, verfolgt er in der Sendung überzeugend konsequent.

Eine Sache bringt ihn aber auf einen argumentativen Umweg. In einem Interview mit dem «Blick» soll er gesagt haben: «Es führt zu grossem Unmut in der Bevölkerung, wenn Flüchtlinge mit dem SUV herumfahren und gleichzeitig Sozialhilfe erhalten.» Das Zitat wurde in der Sendung eingeblendet.

Graf präzisiert: «Der Schutzstatus S war am Anfang richtig, ist aber jetzt falsch.» Es sei störend, wenn Personen mit dem SUV aus der Ukraine in die Schweiz kommen und trotzdem Sozialhilfe beziehen würden. Später in der Sendung fragt er: «Wie erklärt man einem Afghanen, dass eine Ukrainerin in der Schweiz mehr Rechte hat als er?»

Video: watson

Das SUV-Beispiel irritiert die Grüne-Nationalrätin Irène Kälin. Sie sagt: Natürlich würden auch reiche Personen aus der Ukraine in die Schweiz kommen. Die Ukraine sei schliesslich ein europäisches und entwickeltes Land. Sie sagt: «Auch Reiche brauchen Schutz vor Bomben!»

100 Bewerbungen, nur Absagen

Eine, die aus der Ukraine in die Schweiz flüchten musste, ist Elena Chepurenko. Sie sitzt mit ihrer Tochter Maria im Studio. Laut einer Studie der Berner Fachhochschule seien Personen mit Schutzstatus S im Durchschnitt gut ausgebildet und hoch motiviert, weshalb sie relativ gute Chancen hätten, einen Job zu finden. Das trifft auf Chepurenko nur teilweise zu.

Chepurenko hat einen Master in Wirtschaftswissenschaften und seit ihrer Ankunft in der Schweiz mehr als 100 Bewerbungen verschickt, aber nur Absagen bekommen. Doch sie wolle deswegen keine «Depression» bekommen, sagt sie, sondern mindestens bis 300 Bewerbungen weitermachen.

Sie vermutet, dass die Arbeitgeber sich scheuten, sie einzustellen, weil sie nicht wüssten, wie lange sie in der Schweiz sein werde. Denn der Status S sei «rückkehrorientiert». Aber vielleicht könne man ja auch kurzfristige Verträge vereinbaren.

Und zur SUV-Sache sagt sie in solidem Deutsch: «Ich möchte mich entschuldigen, dass ich auch mit dem Auto in die Schweiz gekommen bin. Aber ich hatte keine andere Option.»

Video: watson

Fehlende Kinderbetreuung als Hürde

Am Beispiel von Chepurenko zeigt sich, dass der Status S derzeit nur bedingt funktioniert – in diesem Punkt sind sich ausnahmsweise alle Anwesenden einig.

Marti macht diesbezüglich eine wichtige Ergänzung, indem sie die durchschnittliche Erwerbsquote von 48 Prozent beim Status F aufdröselt: Die Männer würden über diesem Durchschnitt liegen, die Frauen darunter.

Darum brauche es frauenspezifische Integrationsmassnahmen, sagt sie, auch bei den Ukrainerinnen, von denen viele Mütter mit Kindern seien. Fehlende Kinderbetreuung sei eine grosse Hürde bei der Integration dieser Frauen in den Arbeitsmarkt.

Graf sieht das auch so und schlussfolgert: «Der Status S muss weg. Wir müssen anfangen, zu integrieren.» In der Luzerner Regierung habe man die Idee präsentiert, junge Leute – wie die Tochter von Chepurenko, die sich zur Mediamatikerin ausbilden lassen möchte – einfach eine Lehre machen zu lassen.

Graf zeigt auf Maria, wenn er sagt: «Solche jungen Leute müssen in eine Ausbildung. Jede Person, die einen Tagesablauf hat, eine Struktur hat, die arbeiten gehen kann, ist gesund! Und kommt selbst durch das Leben, ohne Sozialhilfe!»

Kälin stimmt zu: Die Ungleichbehandlung zwischen Afghanen und Ukrainerinnen, aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft, sei nicht hilfreich.

Man müsse den Status S überarbeiten, sagt sie, und zwar am besten, indem man das Positive vom Status F nehme, wie frühe Sprachförderung oder Zugang zu Bildung, und das Positive vom Status S, wie Reisefreiheit oder direkter Zugang zum Arbeitsmarkt, dann komme man möglicherweise auf eine Lösung, die «zukunftsfähig» sei. Marti pflichtet dem bei.

«So etwas von zynisch»

Während Graf, Kälin und Marti immer wieder eine gemeinsame Grundlage finden, manövriert sich Fischer im Verlauf der Sendung zunehmend ins einsame Abseits.

So ist er dafür, den Schutzstatus gestaffelt aufzulösen, indem man, das Ganze von der Region in der Ukraine – das ist auch der Vorschlag der SVP – abhängig mache.

10'000 bis 12'000 Ukrainerinnen und Ukrainer seien aus der Schweiz inzwischen in ihr Land zurückgekehrt, sagt er, manche sogar «in die gefährlicheren Regionen im Osten», wobei die meisten «in den weniger gefährlichen Westen» gegangen seien.

Der Moderator Sandro Brotz bittet die Ukrainerin Chepurenko daraufhin um den Reality-Check: «Ist es in der Ukraine irgendwo weniger gefährlich? Wäre es im Westen für sie wirklich zumutbar?»

Chepurenko sagt: «Heute sind über der Westukraine 70 russische Raketen gefallen. Und sie schiessen überall. Und wenn Sie[, Herr Fischer,] mal zu uns [in die Ukraine] kommen, dann werden Sie sehen, dass wir drei- bis viermal am Tag in den Keller rennen und dort ohne Strom und ohne Heizung ausharren müssen. Es ist gefährlich.»

Doch Fischer bleibt dabei und blamiert sich augenscheinlich, indem er sagt: «Es ist schon nicht so, dass in der gesamten Ukraine Krieg ist.»

Kälin kontert, sichtbar enerviert: «Vorzuschlagen, jetzt mit der gestaffelten Aufhebung des Schutzstatus S anzufangen, im Sinne: vielleicht ist es in Lwiw weniger gefährlich als im Donbass, ist so etwas von zynisch.»

Video: watson

Eine «Arena» auf Abwegen

Der Schutzstatus S stellt in der Sendung den spannendsten Diskussionspunkt dar – zumal er 1998 als Reaktion auf die Fluchtbewegungen im Zuge der Balkankriege eingeführt, aber erst vergangenen März zum ersten Mal für die Geflüchteten aus der Ukraine aktiviert wurde und damit Fragen mit sich bringt, auf die die Schweiz erstmals in ihrer Geschichte Antworten finden muss.

Doch Fischer von der SVP versucht die Diskussion immer wieder auf die üblichen migrationspolitischen Fragen zu lenken, mit denen seine Partei stets Stimmen zu fangen versucht: Bevölkerungswachstum, Personenfreizügigkeit und die Europäische Union (EU).

Bei diesen Themen flogen dann auch die Fetzen zwischen den Anwesenden, insbesondere zwischen ihm und Marti.

Hier die drei Highlights, kurz und knapp:

Das Parteiprogramm

Fischer sagt, als er 1991 geboren sei, habe die Schweiz 6,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gehabt. Jetzt habe sie schon 8,9 Millionen – und würde «mit den ganzen Sans-Papiers» sogar die 9-Millionen-Grenze überschreiten. Dieses «permanente Bevölkerungswachstum» müsse man stoppen.

Marti sagt: «Also gut, jetzt haben wir das Parteiprogramm gehört, jetzt können wir wieder über das Thema reden.» Und fährt fort: In der Ukraine sei seit fast einem Jahr einen Krieg, in Afghanistan sei seit anderthalb Jahren ein Terrorregime an der Macht und in Syrien sei ebenfalls seit fast 12 Jahren Krieg – und jetzt sei vor wenigen Tagen noch das Erdbeben in der Türkei und Syrien dazugekommen. «Das ist die Weltlage. Das kann man mal grundsätzlich nicht im Nationalrat oder Ständerat beeinflussen.»

Video: watson

Die «Kriegsflüchtlinge»

Marti findet die Unterscheidung zwischen Personen mit Schutzstatus und Personen mit Flüchtlingsstatus nicht in Ordnung, weil es «dieselben (russischen) Bomben» seien, vor denen die Personen in Syrien oder der Ukraine flüchten würden.

Fischer will diesen Vergleich nicht akzeptieren. Für ihn sind Personen mit Status F «keine Kriegsvertriebene wie in der Ukraine». Marti markiert ihren Widerspruch, indem sie das Wort «Kriegsflüchtlinge» mehrmals wiederholt, während Fischer weiterredet, und dann zu ihm sagt: «Kriegsflüchtlinge! Sie können es ruhig aussprechen, es ist korrekt.»

Video: watson

Der Fachkräftemangel

Fischer fragt, warum ein Arbeitgeber investieren solle, um eine Ukrainerin wie Chepurenko anzustellen, wenn er dank der Personenfreizügigkeit mit der EU ausgebildete Fachkräfte aus Deutschland und anderswo holen könne?

Und überhaupt, hätte man ja meinen können, fährt er fort, dass der Fachkräftemangel jetzt behoben sei, durch die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit einem Jahr in der Schweiz seien. Doch die Migration aus dem EU-Raum sei nicht zurückgegangen. Offensichtlich brauche der Arbeitgeber als immer noch Angestellte aus der EU.

Er behauptet: «Der Fachkräftemangel wird immer grösser, je mehr Menschen in der Schweiz sind.»

Dann gerät die Diskussion dermassen durcheinander, dass Brotz mit ausgestreckten Armen einen «Ordnungsantrag» an «die Damen und Herren» stellen muss. Es brauche eine «Balance» – auch von den Themen her, es werde in dieser Sendung keine EU-Debatte geführt.

Video: watson
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95 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Medical Device
11.02.2023 06:11registriert Januar 2021
Auch wenn es immer unterschiedliche Gründe sind warum Menschen in die Schweiz kommen, Fakt ist halt einfach dass dadurch die Bevölkerungszahl wächst und das auch zu neuen Herausforderungen führt. Die Welt ist komplex und nicht schwarz/weiss. Es hängt nun mal alles zusammen und das macht es schwierig an den Stellschrauben zu drehen. Auch die Schweiz kann sich dem nicht entziehen.
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Schneider Alex
11.02.2023 06:16registriert Februar 2014
Eigentlich wäre es klar: Asylsuchende mit einem sogenannten rechtskräftigen Nichteintretensentscheid (NEE) werden auch von der Sozialhilfe ausgeschlossen und müssen die Schweiz verlassen.
Nur verlassen eben viele dieser Personen unser Land nicht. Die Kantone sind für die Wegweisung und Ausschaffungen zuständig, aber es hapert beim Vollzug, z.B. wegen der fehlenden Kooperation des Herkunftslandes oder der asylsuchenden Person.
Die abgewiesenen Asylsuchenden werden also weiterhin medizinisch versorgt und erhalten obendrein noch Nothilfe. Das ist nicht viel, aber immer noch besser als gar nichts.
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Denkblase
11.02.2023 05:15registriert Juli 2020
Der Status-S hätte funktioniert, wenn wir nach ein paar Monaten nach Kriegsbeginn eine Friedenslösung gefunden hätten, aber wie man sieht, das Leben läuft meist nicht nach Plan, so auch hier! Alle Kriegsparteien schiessen sich auf einen langen Abnützungskampf ein, somit geht der Status-S-Plan den Bach runter.
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