Es war ein spektakuläres Urteil. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Schweiz, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel unternehme. Geklagt hatte der Verein der Klimaseniorinnen – orchestriert von der Umweltorganisation Greenpeace.
Das war Anfang April. Und noch immer gibt die Rüge aus Strassburg zu reden. Die Linke feierte das Urteil als historisch und forderte stärkere Massnahmen gegen den Klimawandel. Die Rechte kritisierte, das Urteil sei nicht vereinbar mit der direkten Demokratie. Die SVP forderte gar den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Konfliktlinie zeigte sich auch im Bundesrat. Umweltminister Albert Rösti (SVP) kritisierte das Urteil öffentlich, Justizminister Beat Jans (SP) widersprach ihm und stichelte in seiner 1. Mai-Rede gegen seinen Regierungskollegen.
Der Bundesrat wird sich voraussichtlich am Mittwoch mit dem Klima-Urteil befassen. Albert Rösti erhielt am Dienstag Support aus dem Ständerat. Die Rechtskommission beantragt, dass der Ständerat in der Juni-Session eine Erklärung abgibt. Und diese hat es in sich. «Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus», lautet der Titel. Die Konklusion: Die Schweiz soll das Urteil nicht anwenden.
Kommissionspräsident Daniel Jositsch (SP/ZH) erklärte vor den Medien, die Kommission anerkenne die Bedeutung des EGMR für den Schutz der individuellen Menschenrechte. Aber sie wünsche, dass der Ständerat seine Besorgnis darüber äussere, dass die Strassburger Richterinnen und Richter mit ihrem Urteil «die Dehnweite der Europäischen Menschrechtskonvention in unzulässiger Weise überspannt haben». Es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, Recht fortzuentwickeln.
Erwecke das Gericht den Eindruck, es betreibe unangemessenen gerichtlichen Aktivismus, rufe das Widerstände in den Vertragsstaaten des Europarats hervor, schreibt die Kommission sinngemäss. Das könnte letztlich zu einer Schwächung des Schutzes der Menschenrechte in Europa führen.
Für Jositsch dient der Entscheid seiner Kommission dazu, jene zu besänftigen, die nach dem Urteil den EGMR grundsätzlich in Frage stellen. In der Erklärung wird vom Bundesrat verlangt, dass er sich in die Gremien des Europarats aktiv einbringe und darüber informiere, dass die Schweiz sehr viel gemacht habe. Insbesondere habe die Schweiz im März ein neues CO2-Gesetz verabschiedest. Es gebe keinen Anlass, dem Urteil des Gerichts weiter Folge zu geben, zitierte Jositsch aus der Erklärung. Die bisherigen klimapolitischen Anstrengungen würden genügen.
Die Rechtskommission verabschiedete den Antrag für die Erklärung mit 10 zu 3 Stimmen deutlich. Zu den Gegnern gehört der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga. Er sagt: «Es ist unglaublich, dass die Weiterentwicklung der Rechtssprechung durch ein Gericht kritisiert wird. Das Bundesgericht in der Schweiz arbeitet ebenfalls so.» Sommaruga hält die geplante Erklärung auch in Bezug auf die Gewaltenteilung für problematisch. Es sei gar «lächerlich», dass sich eine politische Institution gegen ein internationales Gericht stelle.
Verärgert reagierten die Klimaseniorinnen respektive Greenpeace. «Die Kommissionsmitglieder möchten Gericht spielen und sich über den Entscheid des EGMR hinwegsetzen», heisst es in ihrer Medienmitteilung. Damit würde die Arbeit des Gerichts diskreditiert. Die Klimaseniorinnen erwarten von einem Rechtsstaat wie der Schweiz, dass das Urteil umgesetzt werde. In die gleiche Kerbe schlagen die Grünen. Ihre Präsidentin Lisa Mazzone spricht von einem «schweren Angriff auf die Institutionen und die Achtung der Menschenrechte». (aargauerzeitung.ch)
Wie wird Strohmannargument definiert?