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«Wegen Blockade mit der EU haben Firmen die Schweiz verlassen»

«Wegen Blockade mit der EU haben Firmen die Schweiz verlassen»

Simone Wyss Fedele, die Chefin von Switzerland Global Enterprise, erklärt, wie sich Schweizer Firmen in China auf eine Eskalation vorbereiten, weshalb der Standort Mexiko boomt, welche Folgen die Blockade in der EU-Politik für die Neuansiedlungen in der Schweiz hat und welches Land davon profitieren könnte.
28.01.2023, 18:22
Florence Vuichard und Ann-Kathrin Amstutz / ch media
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Simone Wyss Fedele, die Chefin von Switzerland Global Enterprise.
Simone Wyss Fedele, die Chefin von Switzerland Global Enterprise.bild: andrea zahler

Die Null-Covid-Politik ist Geschichte, China ist zurück im Spiel, heisst es vielerorts. Stimmt das?
Simone Wyss Fedele: Ja. Wir erwarten im dritten Quartal eine starke Erholung beim Schweizer Geschäft mit China. Denn eines ist klar: China bleibt für Schweizer Firmen sehr wichtig – schon aufgrund der Grösse des Marktes.​

Ist das nicht ein bisschen naiv? Schliesslich sind Rückschläge nicht auszuschliessen – ob wegen der Pandemie oder einer Eskalation mit Taiwan.
Die Gefahren sind real. Aber international tätige Firmen müssen die Risiken abschätzen können: Wie entwickelt sich der chinesische Markt im besten und im schlechtesten Fall? Und was tun wir dann? Einige Firmen versuchen, sich verstärkt regional aufzustellen – in Bezug auf die Lieferketten, aber auch die eigene Wertschöpfung.

Was bedeutet das konkret?
Wir sehen einen Trend: «China + 1». Schweizer KMU, die es sich leisten können, verlagern die Produktion für den asiatischen Markt nach Vietnam, Thailand oder Indien. Mit einem zweiten Standort kann sich die Firma auf eine mögliche Eskalation vorbereiten.

Absichern ist also der neue Trend?
Dass Unternehmen diversifizieren, war schon immer entscheidend. Aktuell im Fokus steht die Regionalisierung im internationalen Handel. Firmen siedeln Entwicklung und Produktion für Asien in Asien an, für Europa in Europa und für Amerika in Amerika. Die Globalisierung wird regional. Anpassungs- und Wandelfähigkeit ist wichtiger geworden. Die Geopolitik treibt die Gesellschaft und die Wirtschaft vor sich her, die Welt verändert sich, und dann muss man die Strategie anpassen. Wir sind uns das einfach nicht mehr gewohnt. Doch, was wir in den vergangenen drei Jahren alles erlebt haben, das ist die neue Normalität, darauf müssen wir uns einstellen.

Wie viele Schweizer Firmen haben eigentlich China jetzt verlassen?
Gewisse Firmen haben sich zurückgezogen. Es gibt Firmen, die sich das Risikomanagement nicht leisten können oder wollen. Auch regulatorisch ist das Umfeld sehr anspruchsvoll geworden: Wer in China geschäftet, braucht eine sehr gute Rechtsberatung. Gleichzeitig gibt es etliche Schweizer Firmen – etwa in den Bereichen Nahrungsmitteln, Life Sciences und Medtech, die jetzt neu oder mehr investieren. Denn, wie gesagt: China bleibt sehr wichtig. Es ist unser drittwichtigster Handelspartner, künftig wird es nach den USA wohl das zweitwichtigste Land sein.

In sensiblen Bereichen wie Hightech müssen sich Firmen irgendwann entscheiden, ob sie in China oder in den USA tätig sind.
Das ist zum Teil heute schon der Fall. Es gibt Schweizer Firmen, die produzieren heute schon «china free»-Produkte für die USA und «US free»-Produkte für China. Und es ist klar: Jede Firma muss wissen, für welches Land sie sich im Ernstfall entscheiden würde.

Das wären dann die USA, oder?
Wir halten eine rigide Blockbildung für möglich, jedoch für unwahrscheinlich. Sollte es aber so weit kommen, dann wählen Schweizer Firmen den europäischen Block, so lautet das Feedback an uns – und indirekt die USA. Denn ohne Europa geht es nicht.

Also letztlich verhalten sich die Firmen typisch schweizerisch und handeln mit allen, solange es eben geht.
Das würde ich nicht unterschreiben. Die Firmen müssen sich immer fragen: Was sind unsere Werte? Wenn sich die Situation in Taiwan ähnlich wie bei Hongkong entwickelt: Wollen wir dann noch in China tätig sein? Das andere sind die Sanktionen, an diese halten sich die Firmen natürlich.

Stichwort Hongkong: Früher war es ein grosser Schweizer Exportmarkt. Was ist davon übrig, seit China die politische Kontrolle übernommen hat?
Firmen haben früher ganz China von Hongkong aus bedient. Nach den Ereignissen von 2020 ist die Nachfrage extrem gesunken. Auch wir hatten ein Team in Hongkong, heute nicht mehr.

Wohin gingen eigentlich die Schweizer Firmen, die 2022 Russland verlassen mussten?
Wir haben rund 260 Schweizer Firmen in Russland unterstützt, die nach dem Angriff auf die Ukraine unsere Hilfe beansprucht haben – bei der Einhaltung von Sanktionen oder bei der Neuorientierung. Ursprünglich gingen wir davon aus, dass viele von ihnen in osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn oder Tschechien umsiedeln. Doch viele Firmen gingen stattdessen nach Lateinamerika, besonders Mexiko. Das ist ein globaler Trend. Von Mexiko aus kann eine Firma ganz Nord- und Lateinamerika, aber über den Pazifik auch China abdecken. Das Land hat eine sehr gute Logistik und viele Fachkräfte mit Abschlüssen in Naturwissenschaften. Es gibt auch vermehrt Firmen, die ihre Fühler nach Afrika ausstrecken.

Die USA haben Deutschland als grösstes Schweizer Exportland abgelöst. Werden wir nun also unabhängiger von Europa?
Europa als Ganzes ist unser wichtigster Handelspartner und wird es in den nächsten 20 Jahren auch bleiben. Wir sehen es bei den Firmen, die wir begleiten: Der erste Schritt ins Ausland geht in die Nachbarländer. Jeder Markt ist anders, und in Europa kann man verschiedene Situationen testen. Erst, wenn man in Europa gut aufgestellt ist, wagt man den Schritt nach Nordamerika. Und dann nach Asien.

Europa bleibt also die Nummer eins – trotz der zunehmenden Probleme mit der gegenseitigen Anerkennung von Standards, die nicht mehr gesichert sind, weil die Bilateralen nicht mehr angepasst werden?
Für Schweizer Firmen ist die aktuelle Situation äusserst unbefriedigend und teuer, aber sie können damit umgehen. Der Schweizer Wirtschaftsstandort hingegen tut sich damit schwer. Seine Attraktivität nimmt ab.

Sind denn Firmen ausgezogen aus der Schweiz wegen der Blockade bei der Europapolitik?
Es sind in der Tat ein paar Firmen gegangen. Das Problem ist aber woanders. Die Schweizer Unternehmen brauchen Europa, und jetzt, mit all diesen geopolitischen Spannungen ist Europa noch wichtiger geworden für uns. Deshalb ist der optimale Marktgang für die Schweiz so wichtig. Ohne Europa geht es für die Schweizer Wirtschaft nicht.

Ist das Schweizer EU-Problem ein weiteres Negativbild des hiesigen Wirtschaftsstandorts, gegen das Sie ankämpfen müssen bei der Suche nach ansiedlungswilligen, ausländischen Firmen?
Die aktuelle Situation führt einfach zu mehr Informationsbedarf. Wir müssen den internationalen KMU heute häufiger erklären, dass die Schweiz eigentlich Teil des europäischen Binnenmarkts ist – einfach mit einer Ausnahme: Medtech, wo das Abkommen für technische Handelshemmnisse nicht angepasst wurde. Und der zweite erhöhte Erklärungsbedarf besteht beim europäischen Forschungsprogramm «Horizon», bei dem die Schweiz nicht voll integriert wird.

Woher kommen denn die Firmen, die sich jetzt in der Schweiz niederlassen?
Die meisten kommen aus den USA. Zweitwichtigster Herkunftsmarkt ist Asien, wobei sich vor allem japanische, südkoreanische und indische Firmen hier niederlassen. Die Schweiz und Irland sind übrigens die beiden Ausnahmen, die auch in den Covid-Jahren mehr innovative Firmen ins Land locken konnten als abgezogen sind. 2022 war hingegen herausfordernd, insbesondere beim Werben um amerikanische Firmen – und zwar wegen des Kriegs in Europa, der ihnen Angst macht.

Wieso soll sich eine amerikanische oder eine asiatische Firma, die nach Europa will, für die Schweiz entscheiden? Sie könnten ein EU-Land wählen, dann wäre der Marktzugang gesichert.
Eine Firma will mehr als nur einen Marktzugang, sie ist auch auf der Suche nach den besten Mitarbeitenden und den besten Partnern. Wenn zum Beispiel eine Industriefirma in Europa an einer Zusammenarbeit mit Google, Dell und Co. interessiert ist, kommt diese mit Vorzug in die Schweiz, denn hier haben die grossen Techfirmen ihren Europasitz.

Wenn die Schweiz tatsächlich so attraktiv ist, wie Sie sagen: Braucht's denn Ihre Standortförderung noch?
Die ganze Welt macht Standortförderung. Deshalb müssen wir das auch machen.

Sind es letztlich nicht einfach die tiefen Steuern, welche die Firmen anlocken?
Früher war das so. Heute ist das nicht mehr der Fall – im Gegenteil: Steuervorteile bergen für international tätige Firmen Reputationsrisiken. Und mit der OECD-Steuerreform wird die Steuerfrage sogar noch weiter an Bedeutung verlieren. Wir hatten in Europa bis jetzt zwei grosse Konkurrenten: Irland und Holland. Irland punktete bei den Steuern. Da dieses Argument an Gewicht verliert, werden wir hier besser gestellt.

Dann ist also Holland die grösste Schweizer Konkurrenz?
Holland hat wie die Schweiz den ansiedlungswilligen Firmen attraktive Partner und gute Fachkräfte zu bieten. Und Holland ist eines der Länder, das auf Kosten der Schweiz weiter zulegen wird, sollte der Marktzugang zu Europa noch länger unsicher bleiben. (aargauerzeitung.ch)

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100 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Skunk42
28.01.2023 18:47registriert Februar 2022
Welche Firmen denn? Etablierte gesunde Firmen gehen nicht von heute auf morgen in die USA.
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Clife
28.01.2023 19:21registriert Juni 2018
Wie es in den USA aussieht sehen wir doch super. Da gibt es keinen Mittelstand, entweder ist man reich oder arm. Wollen wir wirklich in Europa so werden? Europa macht Chancengleichheit sowie Gleichberechtigung aus. Grundrechte sind hier etwas besonderes und deswegen sind wir auch verhältnismässig glücklich.
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Nestroy Lodoño de Salazar y Matroño
28.01.2023 19:03registriert Februar 2014
"Aber international tätige Firmen müssen die Risiken abschätzen können", sagt Simone Wyss Fedele. Eben das können sie nicht und sie wollen es auch nicht können. Sie wollen Profit jetzt. In diesem Quartal. Russlands Gas war das Lackmuspapier der multinationalen Konzerne und sie haben versagt. Ausbaden muss es die Mittel- und Unterschicht. Und auch das ist ihnen egal. Vielleicht hilft ja der Staat, der sie am liebsten privatisierten.
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