Zwei Seiten Papier liegen auf dem Tisch vor Kateryna Gerber. Das Dokument hat sie mit Excel geschrieben. Und zwar so klein und dicht, dass schon aus zwei Meter Entfernung alles zu einem schwarzen Block verschwimmt. Es ist eine Rechnung mit dem Total: 137.2 Stunden, also rund 17 Arbeitstage. So viel Zeit hat die Frau mittleren Alters aufgewendet, damit ihre Familie und Freunde nach der Flucht aus der Ukraine die ersten Monate in der Schweiz überstanden. Frauen wie Kateryna Gerber, die eigentlich nicht so heisst, gibt es in der Schweiz einige. Aber wenige haben ihren Kampf für ihre Verwandtschaft gegen die Mühlen der Verwaltung so penibel dokumentiert wie sie.
Ihr Protokoll zeichnet das Bild einer hilfsbereiten, aber komplizierten und oftmals überforderten Schweiz. Vor allem aber bietet es einen Einblick in die Lebensrealitäten der geflüchteten Ukrainerinnen. Es ist eine Diaspora auf Zeit: Genau an diesem zweiten Novembermittwoch, während Gerber in einem Zürcher Restaurant einen Grüntee bestellt, berät der Bundesrat den Schutzstatus S und damit die Zukunft der Ukraine-Flüchtlinge.
Zuerst kam die Schwägerin Yulia und wiederum deren Schwägerin Anna, jeweils mit den Kindern. Ihnen hatte Gerber in den ersten Kriegswochen einen Fahrlehrer aus Basel vermittelt, der mit Bussen an die ukrainische Grenze fuhr. Hilfsgüter hin, Menschen retour. Ausserdem war da noch Daryna, die Freundin von Kateryna Gerber. Daryna verbrachte gerade ihre Ferien mit ihren Kindern auf Gerbers Einladung in Adelboden, als am 24. Februar russische Panzer auf ukrainisches Hoheitsgebiet rollten. Die entzweite Familie ging nie mehr heim.
Darynas Mann konnte damals keine Ferien nehmen, jetzt darf er das Land nicht mehr verlassen, genau wie die Männer von Yulia und Anna. Als Gerber und Daryna von Adelboden nach Hause fuhren, machten sie kurz Halt in Bern: Zehntausend Menschen standen mit ihnen auf dem Bundesplatz und verlangten, dass die Schweiz die Sanktionen gegen den russischen Aggressor übernehme. «Es war ein wunderschöner Moment, diesen Rückhalt in meinem Land zu spüren», sagt Gerber.
Seit 2006 lebt Gerber hier, schon lange hat sie den Schweizer Pass. Ihre Ausbildung absolvierte sie in der Ukraine, ihren Doktortitel erlangte sie an der ETH Zürich. Sie ist verheiratet und spricht nahezu perfekt Hochdeutsch, dazwischen streut sie Wörter wie «irgendeinisch» und «ölfi» ein. An der Fachhochschule forscht sie zu Wasseraufbereitung in Entwicklungsländern; sie steht in regem Austausch mit humanitären Organisationen.
In den ersten Kriegstagen kümmerte sich Gerber um Unterkünfte für die drei Frauen auf der Flucht. Nicht alle konnten bei ihr bleiben, aber weder ihre Genossenschaft noch Hilfsorganisationen vermochten ihr beizustehen. Über persönliche Kontakte fand sie schliesslich für alle eine Bleibe, wenigstens für die erste Zeit. Grosse Sorge galt auch Gerbers Eltern in der Ukraine. Viktor und Anastasia wohnten nur fünf Kilometer vom Flughafen Hostomel bei Kiew entfernt. Hostomel war eines der ersten Kriegsziele der Russen: Bereits in den ersten Stunden der Invasion landeten dort Fallschirmjäger, zerstörten Flugzeuge und schossen ein Verwaltungsgebäude in Brand.
Viktor und Anastasia standen unter Schock. Das Gefühl, jeglichen Besitz innert Minuten zu verlieren, kannten sie gut: Viktor hatte als Atomingenieur in Tschernobyl gearbeitet. «Damals mussten meine Eltern sofort fliehen, was meine Mutter nie verarbeitet hat», erzählt Gerber. Nun hagelte es Bomben und Gefechtsrauch war vom Fenster zu sehen. Es wurde Mitte März, bis Kateryna Gerber ihre Eltern von einer Flucht überzeugen konnte. Erst im August sollte sie eine kleine Genossenschaftswohnung für ihre Eltern finden, aber das wusste Gerber damals noch nicht.
Am 12. März 2022 hat der Bundesrat den Schutzstatus S für Flüchtlinge aus der Ukraine aktiviert. Er ermöglicht Betroffenen, mindestens ein Jahr in der Schweiz zu bleiben, Sozialhilfe zu beantragen und zu arbeiten. Zwei Tage später versuchte Gerber, für ihre Familie Papiere zu besorgen. Das Chaos im Aufnahmezentrum war riesig, Dolmetscherinnen kaum vorhanden, erzählt sie. Kurzerhand sei sie selbst eingesprungen. Gerber notierte: Arbeitsaufwand vier Stunden.
Arbeiten war für die Mütter von riesiger Bedeutung: Sie wollten ihre Jobs nach Möglichkeit behalten, immer in der Hoffnung, bald zurückzukehren. Den Ukrainerinnen ging es darum, sich durchzuschlagen, nicht um Integration. «Von Anfang an fragten sich die Frauen: Wie kann ich in der Fremde mein früheres Leben weiterführen?», erklärt Kateryna.
Daryna beispielsweise arbeitete für Siemens in der Ukraine. Das Unternehmen hat ihr in der Schweiz eine Teilzeitstelle angeboten, wie ein Sprecher bestätigt. Sie nahm an. Gleichzeitig war es ihr wichtig, ein kleines Pensum ihres alten Jobs zu behalten. Die Ukraine ist ein Drittstaat: Sollte der Schutzstatus aufgehoben werden, müsste sie ihr altes Leben sofort wieder aufnehmen können. Auf der Flucht geht es immer auch um die Frage, wie viel Wurzeln man in der Fremde schlagen soll. «Über den Winter werden die wenigsten zurückkehren», glaubt Migrationsexperte Eduard Gnesa.
Anzeichen dafür gibt es derzeit keine.
In der öffentlichen Debatte um die Kriegsvertriebenen lassen sich derweil zwei Tendenzen feststellen. Der «Tages-Anzeiger» schrieb kürzlich über die Erfahrungen von Flüchtlingen, von ihnen werde mehr Dankbarkeit erwartet. Im luzernischen Wikon sorgte ein Beschwerdebrief über die Situation in einer temporären Asylunterkunft für Hass im Netz. Alle paar Wochen testen rechte Politiker, wie es noch um die Schweizer Solidarität mit den Flüchtlingen steht.
Gleichzeitig fordern Organisationen wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe mehr Integrationsmassnahmen für die Ukrainerinnen, nicht nur Geld für Sprachkurse.
sagt Eliane Engeler vom Dachverband der Hilfswerke im Bereich Asyl. «Aber es ist nicht absehbar, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird, und es macht keinen Sinn, mit Integrationsmassnahmen zu warten.»
Egal, wie man diese Haltungen bewertet: Sie stehen beide für den Eindruck, dass die Ukrainerinnen länger als gedacht in der Schweiz bleiben werden.
Wer sich durch die Unterlagen von Kateryna Gerber wühlt, erhält den Eindruck: «Ihre» Familien haben sich in den vergangenen Monaten leidlich eingerichtet. Die Einträge in ihrem Tagebuch der Fronarbeit haben ab Juli stetig abgenommen, auch wenn längst nicht alles reibungslos verlief mit der Einrichtung: Krankenkassenwechsel, Arbeitsbewilligungen, Kinderimpfungen, Fehler bei der Auszahlung von Sozialbeiträgen – der Mailverkehr, den Gerber in den vergangenen Wochen mit Ämtern und Hilfsorganisationen führte, würde einen Ordner füllen. Es war ein Kraftakt, der Gerber an ihre persönlichen Grenzen stiessen liess und auch an den Betroffenen zehrte. «Wir hoffen auf die Verlängerung des Schutzstatus S», sagt Gerber, «das gibt uns mehr Sicherheit.»
Nur wenige Stunden später tritt Justizministerin Keller-Sutter in Bern vor die Medien, um genau dies zu verkünden. Der vorübergehende Schutz gelte voraussichtlich bis März 2024. «Damit haben wir Klarheit geschaffen», sagt sie. Kateryna Gerber kann aufatmen, aber nur kurz.
Für den aktuellen Zustand vieler Flüchtlinge hat das Schweizer Hochdeutsch einen schönen Begriff erfunden: das Providurium. Eine Übergangslösung, die irgendwann Alltag wird. Wie fragil dieser aber ist, zeigt sich schnell. Die Genossenschaftswohnung von Viktor und Anastasia wird Ende Juni abgerissen. Spätestens im Frühjahr geht die Sucherei nach einer Unterkunft von Neuem los. Unsicherheit ist vielleicht die steteste Begleiterin für Menschen auf der Flucht. (cpf)
So leid es mir tut, die Medien tragen auch nicht zum lösungsorientierten Diskurs bei. Die Medien haben jetzt fast ein Jahr lang erzählt, wie viel besser es die Ukrainer haben, mit ihrem S-Status, als die armen Menschen aus Nordafrika. Jetzt plötzlich haben es die anderen besser? Bisschen mehr Aufklärung als Populismus wäre auch von Medienseite nett.