Als das Erdbeben mit der Stärke 7.7 sein Heimatdorf Pazarcik um vier Uhr morgens trifft, befindet sich Sabri Catar 3300 km entfernt «im Tiefschlaf». Der 38-jährige Kurde erfährt erst am Morgen von seiner in Basel wohnhaften Mutter von der Katastrophe, die nicht nur seiner Familie ihre Existenz raubt: «In meinem Umkreis in Basel ist praktisch jeder betroffen», sagt Catar. Denn: Eine Mehrheit der in Basel wohnhaften Menschen mit türkisch-kurdischer Herkunft stammen aus den am schwersten betroffenen Dörfern Pazarcik, Elbistan und Narli.
Sie alle bangen um Familienmitglieder – verschüttet, vermisst und auf Hilfe wartend, sagt Catar, der beim Betrieb seines Bruders Ahmet MTS Patiententransport am Walkeweg 80 arbeitet. Binnen weniger Stunden stellten die beiden eine Materialsammlung auf die Beine. Wir treffen Catar vor Ort, kurz vor acht Uhr abends.
Seinem Aufruf in den sozialen Medien folgen immer mehr Betroffene, die ihrer Familie und ihren Heimatdörfern auf diese Weise helfen wollen. Im Minutentakt fahren Autos vor die Garage, Familienväter schleppen Säcke mit Schuhen, Kleider und Winterjacken. Das Material ist notdürftig eingepackt, teilweise in Abfallsäcken oder Taschen: Es musste schnell gehen.
Zwei junge Frauen helfen beim Sortieren und schreiben die Boxen an. «Mein Onkel musste drei Stunden neben seinen verstorbenen Nachbarn ausharren», sagt eine junge Baslerin, die ein Schuhpaar mit Klebestreifen zusammenbindet. Auch ihr ist der Schock ins Gesicht geschrieben. Wir erfahren von einer jungen Mutter, die noch kein Lebenszeichen von ihren Eltern habe.
Die ganze Community packe mit an, freut sich Catar und umarmt eine Bekannte, die kurzfristig 20 Boxen mit Windeln besorgte. «Braucht es auch Spielzeug?», fragt jemand. Catar verneint: Vorerst das, was es zum Überleben brauche.
Und das seien nebst Babynahrung, Windeln und Medikamenten auch in erster Linie warme Jacken und Schuhe. Denn: Die Region wurde von einem Wintereinbruch getroffen, es herrschen minus zwei Grad und Schneefall. Die meisten der Betroffenen harren draussen in ihren Pyjamas aus, das Erdbeben überraschte sie nachts. «Meine Familie ist seit Stunden im Auto», sagt Catar, dessen Vater aus den Trümmern seines Hauses gerettet werden konnte. Er sei mittlerweile im Spital und werde notoperiert, sagt Catar und schluchzt: «Mein Vater spürt seine Beine nicht mehr.» Er sei in seinem Haus der einzige Überlebende.
Er zeigt uns Videos, die ein Bekannter drehte. «Mein Heimatdorf Pazarcik existiert nicht mehr», sagt er und scrollt mit zitternden Fingern über den Screen. Auf den verwackelten Bildern sind zerstörte Häuser zu sehen und Dörfer, die wie Schachteln zusammenfallen – dazwischen unendlich viel Leid. «Ich habe am Telefon Leute um Hilfe schreien hören und Kleinkinder gesehen, die leblos in den Armen ihrer Eltern liegen», sagt Catar, der so bald wie möglich ebenfalls in seine Heimat fliegen werde, um zu helfen.
Seine Stimme bricht ab, er weint, ringt um Fassung – das Schlimmste sei die Hilflosigkeit. Denn neben der humanitären Katastrophe ist es auch eine politische: Es wird vermutet, dass die gerade in den ersten Stunden so nötige Hilfe wegen politischer Ungereimtheiten so langsam eintrifft. Bei der betroffenen Bevölkerung handelt es sich meist um eine proalevitische und prokurdische Gemeinschaft.
Innerhalb weniger Stunden wächst der Berg an Hilfsgütern zu einer beachtlichen Menge an. Damit könne man den 18 Tonnen schweren Laster der Pflanzer AG, der am Abend den Dreispitz verlässt, füllen. Dass dieser, wie Catar hofft, innerhalb von 48 Stunden ankommt, bezweifelt die Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan. Sie habe nach den letzten Naturkatastrophen schlechte Erfahrungen gemacht – die Lieferung müsse etliche Kontrollen überstehen.
Diese würden aufgrund der politischen Lage oft nicht zugunsten der Liefernden gehandhabt: «Ich verzichte deshalb bewusst auf eine Materialsammlung.» Man habe alle Bewilligungen eingeholt, entgegnet jedoch Catar, der zuversichtlich sei, dass die Lieferung bald ankomme: «Meine Familie wartet schon.» (bzbasel.ch)