Herr Koch, draussen tobt erneut die Corona-Pandemie und Sie befinden sich im Ruhestand. Vermissen Sie das Rampenlicht?
Daniel Koch: Ganz und gar nicht. Nichtsdestotrotz verfolge ich die aktuelle Situation selbstverständlich sehr genau und intensiv mit.
Sie können also gar nicht richtig loslassen?
Wenn man sich jahrelang mit dieser Thematik beschäftigt hat, kann man das nicht einfach ablegen. Zudem erhalte ich noch immer sehr viele Anfragen.
In einer Woche haben sich die Corona-Fallzahlen mehr als verdoppelt. Bereitet Ihnen die aktuelle Lage Sorgen?
Die zweite Welle ist angebrochen. Das ist natürlich beunruhigend. Ich glaube aber, dass es möglich ist, einen schnellen Ausweg zu finden. Dafür braucht es aber eine enorme Anstrengung. Und es funktioniert nur, wenn man die Bevölkerung mitnimmt.
Gemäss Gesundheitsminister Alain Berset rechnete man erst im Winter mit solch hohen Zahlen. Waren auch Sie von diesem enormen Anstieg überrascht?
Überrascht wäre das falsche Wort. Ich habe bereits im Mai gesagt, dass es im Herbst und Winter schwierig wird. Mit den steigenden Fallzahlen musste man rechnen. Es ist einfach enttäuschend, dass die Zahlen in den letzten Tagen so enorm gestiegen sind.
Sind wir wieder am selben Punkt wie im Frühling? Am 16. März erklärte der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» und schloss alle Läden, Märkte, Restaurants und Freizeitbetriebe.
Man kann die Situationen insofern vergleichen, dass es immer noch das gleiche Virus ist. Aber ansonsten sind die Voraussetzungen ganz andere. Wir wissen mehr und haben mehr technische Möglichkeiten.
Aktuell diskutiert wird ein zweiwöchiger Mini-Lockdown. Kommenden Freitag beginnt Wales damit, in Nordirland wird die Massnahme bereits angewandt. Wäre das eine Möglichkeit?
Ganz persönlich bin ich dagegen, erneut drastische Massnahmen durchzusetzen. Massive Einschränkungen wie im März würden zwar kurzfristig helfen. Längerfristig gesehen ist aber völlig unklar, ob man in zwei Monaten wieder genau am gleichen Punkt ist. Das Wichtigste ist, die Menschen an Bord zu holen. Man muss Massnahmen ergreifen, die die Leute nicht abschrecken, sondern solche, mit denen sie auch längerfristig leben können. Wir haben viel mehr technische Möglichkeiten als noch am Anfang der Pandemie. Ein schnelles und gut funktionierendes Contact-Tracing und Schnelltests könnten beispielsweise enorm helfen.
Welche Strategie fuhr der Bundesrat bei der ersten Welle? Inwiefern spielte die Anzahl Intensivplätze in den Schweizer Spitälern dabei eine Rolle?
Bei der ersten Welle verfolgte man zwei Strategien: Man wollte einerseits die schweren Ansteckungsfälle verhindern und anderseits die Welle eindämmen. Dabei spielte auch die Anzahl Intensivplätze eine Rolle. Das Ziel war, die Hospitalisierungsrate tief zu halten, um schwere Fälle oder gar Todesfälle zu verhindern.
Anfang Oktober steckten sich vor allem junge Menschen mit dem Virus an. Sind sie schuld am Ausbruch der zweiten Welle?
Es ist falsch, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. In erster Linie braucht es Anstrengungen von Seiten Behörden. Mit klarer Kommunikation folgt das Verständnis und die Solidarität der Bevölkerung. Besonders junge Leute haben das Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Das ist absolut legitim und muss auch ernst genommen werden.
Sie gehen also unbeschwert wieder in Restaurants?
Ich war im Sommer immer mal wieder in Restaurants und auch an Grossveranstaltungen. Mit nötigem Abstand und verantwortungsbewusst. Ich bin ein grosser Verfechter von möglichst viel persönlicher Freiheit. Man sollte alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen, statt Dinge zu verbieten, einfach weil es andere auch so machen. Man muss versuchen, neue Wege zu finden, um den Menschen ein möglichst normales Leben zu ermöglichen.
Sie waren auch immer ein Verfechter der Grosseltern-Enkel-Besuche. Würden Sie auch davon abraten, erneut Altersheime abzuriegeln?
Das würde ich. Man kann nicht auf ewig alles und alle Bedürfnisse der Bekämpfung des Virus unterordnen. Sonst richten wir gesellschaftlich zu viele irreversible Schäden an. Auch bei den Altersheimen sollte man sich kreative Lösungen überlegen. Beispielsweise könnten sich sowohl das Personal als auch Besucherinnen und Besucher regelmässig mit Schnelltests testen lassen. Bewohner, die lieber auf der ganz sicheren Seite sind, kann man in einen Flügel verlegen, wo Besuche nicht mehr möglich sind. Wenn man mit den Leuten in einen Dialog tritt und sie fragt, was sie wollen, dann hat man auch viel eher deren Unterstützung auf sicher.
In Ihrem Buch «Stärke in der Krise» berichten Sie von vielen schwierigen Situationen und Entscheiden während des Ausbruchs der Corona-Pandemie. Wo haben Sie sich rückblickend am meisten die Zähne ausgebissen?
Am schwierigsten waren sicherlich die Diskussionen mit den Experten. Vieles davon wurde auch in der Öffentlichkeit ausgetragen. Diese öffentlichen Dispute haben meiner Meinung nach alles andere als geholfen. In der Krise sollte man den Bürgerinnen und Bürgern die Sachen verständlich vermitteln. Auch wenn die Meinungen auseinandergehen. Aber die Menschen zu verwirren ist immer einfach. Die Frage ist einfach, wie viel das wirklich bringt.
Es sind wohl auf beiden Seiten Fehler passiert. Sie gestehen in Ihrem Buch, dass Sie zu lange verkündet haben, dass Masken im öffentlichen Raum nur einen beschränkten Nutzen hätten.
Es gibt sicher Sachen, die man hätte anders machen können. Die erste Welle meisterten wir meiner Meinung nach aber gut.
Es klingt, als seien Sie tatsächlich noch nicht wirklich im Ruhestand angekommen.
Es ist wirklich etwa gleich viel los wie vorher – mit dem Unterschied, dass ich jetzt mein eigener Chef bin (lacht).
Beste Aussage seit Beginn des Ausbruchs. "Kreative Lösungen" sind gefragt, nicht Verbote!
Wenn ich in meine Umfeld so um mich schaue, sieht es aus, als ob man einfach weiter machen würde wie bis anhin. Feste/Events absagen? Fehlanzeige - Die machen wir solange wir noch dürfen...