Herr Graf, die schreckliche Messerattacke eines 15-Jährigen auf einen orthodoxen Juden erschüttert die Schweiz. Was musste passieren, dass ein Minderjähriger so weit geht?
Marc Graf: Es gibt zwei Ebenen, die zu solchen Taten führen. Einerseits sind das persönliche Probleme wie Unsicherheit, soziale Inkompetenz, subjektive Versagensängste, Einsamkeit oder psychische Störungen, die biologische oder frühkindliche Ursachen haben. Andererseits spielen die Ideologien und die damit verbundene Gruppenzugehörigkeit eine wichtige Rolle. Problematische Ideologien legitimieren vermeintlich nicht nur Gewalt gegen «andere», sie fordern sie regelrecht ein. Und diesbezüglich können soziale Medien eine problematische Entwicklung vorantreiben.
Inwiefern?
Indem sie Einzelpersonen plötzlich eine grosse Reichweite und Bedeutung verleihen. Wenn sie eine Tat ankündigen oder gar filmen und live streamen, erlangen sie wie ihre Idole Berühmtheit. Sie fallen aus der Bedeutungslosigkeit und empfinden Sinn, nach dem die Menschen streben.
Im Fall des 15-Jährigen war das vermutlich das Video, in dem er Attacken auf Juden ankündigte und sich als «Soldat des Kalifats und Anhänger des IS» bezeichnete. Wie gefestigt ist diese radikale Einstellung in seinem Alter?
Interessanterweise sind diese Ansichten oft wenig gefestigt. Es gibt Ausnahmen von überzeugten, sozial integrierten und kompetenten, jungen Tätern, die höchst kriminell organisiert sind, bis hin zu Terrornetzwerken. Diese stellen aber eine klare Minderheit dar. Viel häufiger sind die Täter junge Menschen mit Integrationsschwierigkeiten, sogenannte «Lonely Losers», die ideologisch wenig verankert sind. Sie wechseln ihre Ideologien sogar, je nachdem, was gerade ihre Bedürfnisse adressiert in den Medien.
Ihr Beruf ist es, über Straftäter Gutachten zu schreiben, auf deren Basis dann Gerichte über Entlassungen oder Verwahrungen entscheiden. Ist der 15-Jährige psychisch krank?
Es wäre verfehlt und unseriös, aufgrund der aktuellen Wissenslage ein psychologisches Gutachten aus den Hüften zu schiessen.
Zurzeit werden härtere Strafen für Minderjährige gefordert. Bisher endete jede jugendstrafrechtliche Sanktion nach dem 25. Altersjahr. Vergangene Woche hat der Nationalrat beschlossen, dass bei Mord von über 16-Jährigen auch danach eine Verwahrung möglich ist. Befürworten Sie diese Entwicklung?
Ja und Nein. Die Forderung nach Verwahrung von Jugendlichen bei einem Mord erachte ich – und auch die Fachgesellschaft – als populistisch. Vollendete Morde durch minderjährige Straftäter gibt es selten. Wichtiger wäre es, die Absicht des Täters zu berücksichtigen. Wer ein Risikoverhalten für eine tödliche Gefährdung von anderen aufweist, für den braucht es mehr Möglichkeiten.
Welche?
Wir müssen solche Straftäter durch Gespräche und Beobachtung umfassend diagnostizieren, mit ihnen durch eine Therapie auf eine Veränderung hinarbeiten und wir müssen sie sichern können. Sie nur zu verwahren, nützt nichts. Auch die Therapie allein nützt nichts. Es braucht alle diese drei Dimensionen.
Gewisse Stimmen fordern nun den Bürgerrechtsentzug des 15-jährigen Schweizers mit tunesischen Wurzeln. Löst das die Probleme?
Es ist eine schmale Gratwanderung: Drakonische Strafen alleine nützen nichts und Gleichgültigkeit nützt auch nichts. Man darf im Strafrecht den Rechtsfrieden nicht vergessen.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Menschen das Gefühl entwickeln, dass so eine schlimme Tat keine schwere Strafe nach sich zieht, sendet das ein falsches Signal aus. Wir müssen deshalb auch klar gegenüber Jugendlichen aufzeigen, dass es eine Nulltoleranz gibt. Nicht erst bei solchen Taten, sondern bei jeglichen Übergriffen gegen Vulnerable oder wie auch immer subjektiv empfundene «Andere», sie dies religiös, aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder anderem.
Sie fordern also härtere Strafen für Jugendliche, weil sonst kein Rechtsfrieden mehr herrscht?
Nein, es geht nicht um härtere Strafen, sondern um gezielte Massnahmen. Wenn das Parlament härtere Strafen beschliesst, hindert das einen Täter wie den in Zürich nicht. Es braucht aber ein striktes Vorgehen bei antisozialen Verhaltensweisen und die fangen früh an.
Meinen Sie die Präventivarbeit in der Schule?
Bereits im Kindergarten und in der Primarschule brauchen wir mehr und sehr gut geschulte Sozialarbeiter, die von den Lehrpersonen als verhaltensauffällige identifizierte Kinder und deren Familien betreuen und wo notwendig eingreifen, allenfalls mit der Kindesschutzbehörde. Es ist wirksamer, früh positiv zu intervenieren, als spät drakonische Strafen auszusprechen. Jugendliche können meist noch recht gut neue, prosoziale Strategien erlernen, insbesondere wenn sie positive Vorbilder haben.
Sollte man die Eltern mehr in die Pflicht nehmen?
Ja, vorausgesetzt, es sind noch keine Straftaten geschehen. Wenn Kinder Verhaltensauffälligkeiten zeigen, deutet das oft auf Probleme zuhause hin. Frühzeitiges Eingreifen, sogar bis zur Fremdplatzierung, ist wichtig, um Kindern eine gute Entwicklung zu ermöglichen. Wir sehen das bei uns in der schweizweit einzigen geschlossenen Jugendforensik.
Was sehen Sie dort?
Besonders in schwierigen Zeiten, wie Weihnachten, fällt auf, dass viele keine unterstützenden Familien haben. Und oft sind sogar familiäre Angehörige psychisch angeschlagener als die Täter selbst. Es ist traurig, aber es lohnt sich, neue soziale Systeme für sie aufzubauen.
Und was macht man bei den Jugendlichen, die durch dieses System fallen?
Wir dürfen nicht vergessen, dass Rechte auch Pflichten mit sich bringen. Schlussendlich müssen die Gerichte entscheiden, ob jemand so sehr gegen unsere Gesetze verstossen hat, dass er unser Land verlassen muss – oder eingesperrt und gar verwahrt wird. Aber das ist eine absolute Minderheit – die Mehrheit der Straftäter kommt wieder frei, und das ist gut so.
Bringt das erste Mal seit Beginn der Berichterstattung neue konstruktive Gedanken in die Debatte.