Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Amoklauf in Zug, Swissair-Grounding, Grossbrand im Gotthardtunnel, Crossair-Absturz – die Schweiz erlebte im Herbst 2001 eine ungewöhnliche Häufung an Katastrophen. Zuvor war die Welt bereits durch die Anschläge vom 11. September in den USA erschüttert worden. Im Auge des Orkans stand ein Mann: Moritz Leuenberger. Im Gespräch mit watson hält er Rückschau auf die schwierigsten Wochen seiner 15-jährigen Amtszeit im Bundesrat.
Herr Leuenberger, Sie waren im Herbst 2001 als Bundespräsident gefordert. Wie
sehen Sie diese Zeit mit 15 Jahren Abstand?
Moritz Leuenberger: Es gibt Ereignisse in der heutigen Zeit, die mich daran erinnern. Zum Beispiel, wenn nach Anschlägen wie in Paris oder Nizza psychisch gestörte Einzeltäter, die gar nicht islamistisch motiviert sein müssen, in einem Zug mit einem Messer und brennbarer Flüssigkeit Menschen angreifen. 2001 kam es zu einer ähnlichen Entwicklung. Ich war damals überzeugt, dass die Gewaltexplosion am 11. September im Attentäter von Zug einen Nachahmungstrieb geweckt hat. Es war nicht sein einziges Motiv, aber die Hemmschwelle war nach 9/11 gesunken.
Die Schweiz gilt
als friedliches, langweiliges Land. Und dann kam es innerhalb weniger
Wochen zu einer solchen Häufung an traumatischen Ereignissen.
Eigentlich war nur eines terroristisch motiviert, das Attentat in Zug. Die anderen Ereignisse waren Unglücksfälle, und das Swissair-Grounding ergab sich aus dem Versagen des damaligen Verwaltungsrats. Es war aber nicht so, dass unsere Gesellschaft wegen dieser Katastrophen aus den Fugen geraten ist. Es handelte sich um eine Summierung von Unglücksfällen.
Man hat Ihnen
attestiert, dass Sie diese Herausforderung gut gemeistert haben.
Ich war gefordert und musste Verantwortung übernehmen. Ich glaube, dass mir das gut gelungen ist. Durch mich fühlten sich alle vertreten, auch jene, die komplett anderer politischer Couleur waren. Ich habe meine Rolle als Bundesrat nicht immer sehr ernst genommen und mich gerne darüber lustig gemacht. Damals aber war keinerlei Ironie vorhanden, ich ging vollständig in meiner Rolle auf. Das war für mich das Besondere, und es wurde auch sehr positiv aufgenommen.
Begonnen hat
alles in den USA, mit den Anschlägen am 11. September. War Ihnen
sofort klar, dass es sich um ein Ereignis von weltgeschichtlicher
Bedeutung handelte?
Ich sagte damals zwei Dinge, die ich heute noch gültig und richtig finde: Es ist ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft an ihrer verwundbaren Stelle. Und: Die Reaktion darf nie in einem Krieg bestehen. Ich merkte intuitiv, dass US-Präsident George W. Bush auf totale Rache bestehen würde. Noch heute leiden auch wir unter der Irak-Invasion, die ein absoluter Fehler war und zur Destabilisierung der Region beigetragen hat. Er ist eine Mitursache der Flüchtlingsströme.
Gab es ein
Ereignis, das Ihnen persönlich nahe gegangen ist.
Das war schon Zug. Die erste Reaktion kam interessanterweise vom damaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel, der sofort sagte, es sei ein Angriff auf die Demokratie. Dadurch erhielt das Attentat eine grosse politische Dimension.
Wie hat Zug die
Schweizer Politik verändert?
Die Sicherheitsmassnahmen wurden verstärkt. Zuvor konnte man einfach ins Bundeshaus marschieren. Das wurde beendet, aber das ist weltweit so. Wir mussten leider nachziehen, was ich richtig fand, aber auch bedauert habe. Wir waren immer stolz auf unser offenes Bundeshaus.
Trotzdem begegnet
man in Bern noch heute Bundesräten, die ganz allein unterwegs sind.
Wenn ich auf den Markt gehe, ist das für alle überraschend. Man geht nicht davon aus, dass man in einem solchen Fall einem psychopathischen Attentäter über den Weg läuft. Das ist bei Auftritten anders, die öffentlich angekündigt werden. Dort braucht es einen Schutz, und es gibt ihn auch.
Kürzlich wurde
Christoph Blocher bei einem solchen Anlass angegriffen.
Das ist mir auch passiert. Es geschah vor rund 20 Jahren, ganz zu Beginn meiner Zeit im Bundesrat. Meine Frau warf sich dazwischen und wurde dabei verletzt.
Wirklich? Das ist
mir neu.
Ich habe darüber noch nie gesprochen, um keine Nachahmungstäter zu animieren. Ich habe immer wieder unangenehme Dinge erlebt, auch sehr üble. Mein Haus wurde belagert, meine Frau und mein Bruder wurden belästigt. Aber das macht man nicht öffentlich, aus Sicherheitsgründen.
Der Umgangston in
der Schweizer Politik ist in den letzten Jahrzehnten härter
geworden.
Ich empfinde es persönlich auch so, bin mir aber nicht sicher, ob es wahr ist. Die versteckte Wut gegen die echte oder vermeintliche Macht hat es immer schon gegeben. Was sich geändert hat, sind die sozialen Medien. Man kann seine Aggressionen leichter loswerden und andere aufheizen. Ich verweigere mich den sozialen Medien.
Sie haben an der
Medienkonferenz zum Grounding die denkwürdige Aussage gemacht: «Der
Wirtschaftsführer fährt in der Luft, der Bundesrat geht in die
Luft». Gemünzt war sie auf UBS-Chef Marcel Ospel, der sich zum
fraglichen Zeitpunkt unterwegs in die USA befand.
Die Wirtschaftsvertreter haben die politische Dimension verkannt. Ich finde aber nicht, dass es dem Bundesrat möglich gewesen wäre, das Grounding zu verhindern. Es wäre viel mehr Geld nötig gewesen, als damals behauptet wurde, nur schon um den Konkurs zu vermeiden und die Schulden zu bezahlen. Das konnten wir gegenüber den Steuerzahlern nicht verantworten.
Mit der
Nachfolgegesellschaft Swiss sind weit weniger Emotionen verbunden.
Der Verkauf an die Lufthansa 2005 ging ohne grössere Proteste
über die Bühne.
Das war auch so, als die Swiss den Flughafen Basel aufgegeben hat. Jetzt will sie auch in Genf abbauen, ohne dass es in der Romandie für grosse Aufregung sorgt. Das liegt nicht daran, dass die Swiss jetzt den Deutschen gehört. Die heutigen Konsumenten achten auf den Preis und nicht auf das Schweizerkreuz. Sie fliegen mit Billig-Airlines, auch wenn sie von ihnen übers Ohr gehauen werden.
Können Sie den
Entscheid des Stimmvolks für die zweite Strassenröhre
nachvollziehen?
Ich fand das Vorgehen juristisch falsch, man hätte die Verfassung ändern müssen. Aber ich sagte schon damals im Amt, dass richtungsgetrennte Tunnel sicherer sind. Da gibt es keine Diskussion. Ich habe jedoch lebhafte Zweifel, ob man am Ende an einer je einspurigen Verkehrsführung festhalten wird.
Heute leben wir
wieder in einer unsicheren Zeit. Viele Menschen haben das Gefühl,
die Welt sei aus den Fugen geraten. Wie sehen Sie das?
Die heutigen Ereignisse haben leider eine andere Qualität als jene im Katastrophenjahr 2001. Damals gab es eine zufällige Häufung in einem engen Zeitraum. Die Attentate in Frankreich und anderen Ländern aber haben eine vollkommen andere, politische Dimension. Sie sind eine Folge der terroristischen Ausleger des Islamismus.
Sie verstehen die
Ängste vieler Menschen?
Selbstverständlich. Diese Gefühle haben auch verantwortungsvolle, überlegene Experten.
Der Terror
verschafft den Rechtspopulisten in Europa Zulauf.
Leider. Politisch kann ich es nicht billigen, wenn Emotionen geschürt und einfache Lösungen propagiert werden, die es gar nicht gibt. Ich habe volles Vertrauen in den Bundesrat, aber auch er steckt in einem grossen Dilemma: Wie kann man die freie Gesellschaft bewahren und trotzdem mit den nötigen Abwehrmechanismen Anschläge verhindern?
In einem solchen
Umfeld erleben Forderungen etwa nach einem Burkaverbot Aufwind.
Ich mag mich gar nicht in diese Diskussion einmischen. Man kann und soll über die Burka reden. Ich finde es aber nicht korrekt, wenn verantwortungsvolle Politiker die Emotionen bewusst schüren im Wissen darum, dass damit nicht der geringste Beitrag zur Problematik des islamistischen Terrorismus geleistet wird.