Herr Knüsel, Valérie Dittli steht derzeit unter Druck. Darunter könnte auch ihre Partei, die Mitte, leiden. Wie steht es um diese im Kanton Waadt?
René Knüsel: Historisch gesehen ist die Mitte im Kanton Waadt eher eine Partei von Leuten, die ursprünglich aus dem Inneren der Schweiz kommen, aus dem Wallis, dem Kanton Freiburg und der Deutschschweiz. Valérie Dittli, die aus Zug stammt, weicht nicht von dieser Tradition ab. Die Mitte, wie auch die CVP früher, war an ein paar Orten im Kanton Waadt stark, wo die Katholiken in der Mehrheit oder zumindest präsent waren, in der Gegend von Echallens, Montreux, in einem Teil von West-Lausanne und dem Seeufer in Richtung Genf. In den letzten fünfzehn Jahren hat die Partei aber viele Stimmen verloren
Was hat die Mitte an der Persönlichkeit von Valérie Dittli überzeugt?
Ihr Mut. Es brauchte Mut, die Führung der Partei zu übernehmen, indem sie die vorherigen hohen Tiere, die ehemaligen Nationalräte Jacques Neirynck und Claude Béglé, verdrängte. Valérie Dittli trägt eine modernisierte Vision der Partei in sich, wie man sie von einer jungen Person erwarten kann. Sie verkörpert aber auch ein traditionelles Erbe: den Katholizismus ihres Heimatkantons Zug, wo die Mitte die Mehrheitspartei ist.
Was war der Grund dafür, dass sie 2022 in den Staatsrat gewählt wurde?
Entscheidend waren Strategen, die ein Mitte-Rechts-Bündnis geschlossen haben. So gelang die Abwahl der bisherigen SP-Staatsrätin Cesla Amarelle.
Ist die Wahl von Valérie Dittli, die einen kleinen deutschsprachigen Akzent behalten hat, auch ein Zeichen dafür, dass der Kanton Waadt, der früher unter Berner Herrschaft stand, die Beziehungen zur Deutschschweiz stärken will?
Einige Wähler haben vielleicht daran gedacht, als sie Dittli gewählt haben, aber ich glaube nicht an diese Hypothese. Im Übrigen ist ihr Akzent nicht sehr ausgeprägt. Sie beherrscht die französische Sprache angesichts der wenigen Jahre, die sie in der Westschweiz lebt, hervorragend. Ihr Akzent war nie ein Thema, vielleicht wäre es eines gewesen, wenn sie die öffentliche Bildung übernommen hätte. Die Mitte-Rechts-Mehrheit hat sich zweifellos Gedanken über den bestmöglichen Platz für Frau Dittli im Staatsrat gemacht.
Ihre Prognose: Tritt Valérie Dittli zurück oder nicht?
Ich glaube nicht, dass diese Affäre ihren Platz im Staatsrat gefährdet. Es scheint mir wahrscheinlicher, dass sie ihr Amt behält, als dass sie zum Rücktritt gezwungen wird.
Wirklich?
Es ist klar, dass Frau Dittli nun einer leichten Kritik ausgesetzt ist. Eine opportunistische Kritik. Man kann sie kaum des Schwarzhandels oder der Korruption verdächtigen. Sie hat zwar Steueroptimierung betrieben. Aber das war auch etwa beim ehemaligen FDP-Bundesrat Johann Schneider-Ammann der Fall, der den Sitz seiner Firma ins Ausland verlegt hatte. Und dann gab es noch den ehemaligen Waadtländer FDP-Staatsrat Pascal Broulis, der seinen Steuerwohnsitz in Sainte-Croix beibehielt, während er den Grossteil seines Lebens in Lausanne verbrachte. Steueroptimierung wird nicht gefördert, aber auch nicht geächtet.
Das Problem ist wahrscheinlich weniger die Steueroptimierung. Vielmehr der Verdacht, dass sie kein Interesse an dem Kanton hat, an dessen Politik sie beteiligt ist.
Ja, wenn man eine politische Karriere im Kanton Waadt machen will, muss man aus diesem Kanton kommen oder zumindest einen echten Integrationswillen unter Beweis stellen. Ihre politischen Absichten sind nicht ganz klar. Was man ihr vorwerfen kann, ist, dass sie eine Doktorarbeit in Lausanne schrieb, danach ein Anwaltspraktikum in Bern absolvierte und dann zwischen ihren Steuerdomizilen wechselte. Sie ist in gewisser Weise eine Wanderarbeiterin. Sie ist in erster Linie also eine Schweizer Bürgerin, nicht in dem Sinne eine Waadtländer Patriotin ist.
Dies wirft die Frage auf, wie aufrichtig ihr politisches Vorgehen ist. Der vielleicht ärgerlichste Punkt für sie ist ihr steuerliches Hin und Her zwischen 2021 und 2022. Also zwischen ihrer Niederlage bei den Lausanner Kommunalwahlen und ihrer siegreichen Kandidatur bei den Kantonalwahlen.
Die Frage, die sich stellt, ist die nach ihrer Identität. Diese geht Hand in Hand mit ihrer politischen Arbeit. Zu wem gehört Valérie Dittli? Eher zum Kanton Zug oder eher zum Kanton Waadt? Diese Frage wird sich nun wohl auch der Wählerschaft stellen. Es ist klar, dass dieser Vorfall sie in ihrer Karriere weiter begleiten wird. Nicht unbedingt, weil sie Steueroptimierung betrieben hat. Aber als Zeichen eines unklaren politischen Kurses. Sie erweckt nicht den Eindruck, sich voll und ganz mit dem Kanton Waadt zu identifizieren. Auch wenn ihr das heute nicht zum Verhängnis wird, muss ihr bewusst sein: Es ist ein Thema, mit dem sie sich bei den nächsten Wahlen auseinandersetzen muss, falls sie sich dazu entschliesst, erneut zu kandidieren.
Sie kann sich immer auf ihre – wahrscheinlich ehrliche – Verbundenheit mit dem Land berufen. Sie ist neben den Finanzen auch für die Landwirtschaft zuständig.
Ja, sie hat von ihren Kollegen im Staatsrat den Landwirtschaftssektor erhalten. Sie fühlt sich ihm nahe, sie kennt das Dossier gut, ihr Vater ist Landwirt. Sie hat sich mit Weingläsern in der Hand von der Presse fotografieren lassen. Sie schafft das Bild einer Person, die das Land liebt, und zwar nicht irgendein Land, sondern das hier im Waadt.
Es wurde viel über die Dittli-Schwestern Laura und Valérie gesprochen. Wie könnte es anders sein: Laura, Regierungsrätin in Zug, steigt im deutschsprachigen Teil auf, Valérie im französischsprachigen Teil. Und wer zuerst im Bundesrat ist, gewinnt.
Natürlich kann man es so interpretieren: zwei ehrgeizige junge Menschen, die bereit sind, die Schweiz zu erobern. Gleichzeitig wirft dies ein recht sympathisches Bild auf sie. Jungen Menschen und Frauen wird manchmal vorgeworfen, dass sie sich politisch wenig engagieren. Hier haben wir genau das Gegenteil.
Und falls Valérie Dittli zum Rücktritt gezwungen wird?
Falls man sie dazu bewegen will, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man konfrontiert sie aus juristischer Sicht, was ich derzeit für unwahrscheinlich halte, oder man baut ein Dossier gegen sie auf, das aus Kritik aus den Medien und dem Volk besteht. Politisch gesehen ist die Mitte-Rechts-Mehrheit im Staatsrat jedoch recht fragil. Eine Infragestellung dieser Mehrheit durch eine Nachwahl im Falle eines Rücktritts von Valérie Dittli könnte für die Rechte fatal sein.
Aber Valérie Dittli könnte auch das Departement wechseln oder das Finanzressort verlieren, oder?
Dies könnte zwar geschehen, würde aber die unhaltbare Situation von Pierre Maudet wiederholen, der nach dem Skandal um seine Reise nach Abu Dhabi ein Rumpfdepartement leitet. Schwer vorstellbar.