Paul Rechsteiner, Sie wollen das Bürgerrecht radikal umbauen: Künftig soll das Prinzip «ius soli» gelten, also dass jede und jeder, der hier geboren wird, den Schweizer Pass bekommt. Warum?
Paul Rechsteiner: Die Schweiz ist heute eine Dreivierteldemokratie. Ein Viertel der Menschen hat einen ausländischen Pass. Sie sind ausgeschlossen von den Bürgerrechten. Das muss sich ändern, mit einem grossen Schritt nach vorne. Ius soli ist weit verbreitet, etwa in Deutschland, Frankreich oder den USA. Über das Bürgerrecht wird die Frage beantwortet, wann jemand zu einer Gesellschaft gehört.
Wann ist das für sie der Fall?
Wer in einem Land geboren wird, hier aufwächst, arbeitet, sein Leben verbringt, also Teil von Wirtschaft und Gesellschaft ist, der soll auch die entsprechenden Rechte als Bürger haben. Das ist ein demokratisches und menschenrechtliches Prinzip.
Heute erteilt die Schweiz das Bürgerrecht über die Abstammung, künftig soll der Geburtsort den Ausschlag geben. Ist unser Land wirklich bereit für diesen Umbau?
Dazu muss man wissen, woher dieser Fokus auf die Abstammung kommt. Und dafür muss man weit zurückschauen, ins 19. Jahrhundert. Die arme Schweiz war noch ein Auswanderungsland. Man wollte Schweizerinnen und Schweizern, die etwa nach Amerika auswanderten, die Möglichkeit geben, dass ihre Kinder das Schweizer Bürgerrecht erhalten können.
Ein Auswanderungsland ist die Schweiz schon lange nicht mehr.
Das ist sie schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Seither ist sie wirtschaftlich erfolgreich und ein Einwanderungsland. Einwanderungsländer setzen auf das ius soli, um die Zugewanderten miteinzubeziehen. Die Schweiz nicht. Mit dem Ergebnis, dass ein Viertel der Bevölkerung keine politischen Rechte hat. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Deshalb müssen wir endlich die Konsequenzen ziehen. Das wollte Ende des 19. Jahrhunderts übrigens auch der Bundesrat, er hielt damals selbst einen Wechsel zu ius soli für nötig.
Heute hat er eine andere Position. Er lehnt ihren Vorstoss ab.
Der Bundesrat ist in dieser wichtigen Frage leider nicht am Puls der Zeit. Das Justizdepartement argumentiert mit der restriktiven Zuwanderungspolitik. Dabei geht es bei der Einbürgerung darum, wie wir mit den Menschen umgehen, die in unserem Land leben.
Sie haben die staatspolitische Dimension angesprochen. Der Ausländeranteil in der Schweiz ist mit rund einem Viertel so hoch wie noch nie – also auch die Zahl der Leute, die hier leben, aber politisch nicht teilnehmen können. Was sind die Folgen?
Wie gesagt: Wir haben eine Dreivierteldemokratie. Es ist kein Zufall, dass ich den Vorstoss gerade dieses Jahr lanciert habe. Bis vor 50 Jahren hatten wir in der Schweiz ja nur eine halbe Demokratie, weil die Frauen ausgeschlossen waren. Jetzt sind wir bei drei Vierteln. Das ist zu wenig für unser Selbstverständnis, eine stolze Demokratie zu sein. Wir brauchen endlich ein Bürgerrecht, das die Schweiz spiegelt und für die Zukunft taugt.
Max Frisch hat in den 1960er-Jahren den berühmten Satz gesagt von den Arbeitskräften, die man wollte, und den Menschen, die kamen. Hat sich diese Grundhaltung verändert?
Man muss hier differenzieren. Wirtschaftlich und gesellschaftlich lautet meine Antwort: Ja, auf jeden Fall. Die Schweiz hat sich seit Frischs Zeiten stark entwickelt. Man denke nur an die vielen binationalen Ehen. Oder an die Begeisterungsstürme, welche die Fussball-Nati entfacht hat – das multikulturelle Spiegelbild des Landes, das auf einem ganz anderen Niveau spielt, als es die Grösse der Schweiz eigentlich zulässt.
Das Volk hat in den letzten Jahren aber auch mehrfach sein Unbehagen ausgedrückt gegenüber dem Migrationsland Schweiz, zum Beispiel mit dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative 2014 oder zur Ausschaffungs-Initiative 2010.
Seit 2016 hat die SVP mit ihren Initiativen immer verloren: Nein zur Durchsetzungs-Initiative, nein zur Begrenzungs-Initiative, nein zur Selbstbestimmungs-Initiative. Das zeigt, dass die Zeit jetzt reif ist für einen grossen Schritt nach vorne. Wir müssen das, was wirtschaftlich und gesellschaftlich so erfolgreich ist, nun auch politisch nachvollziehen.
Heute entscheiden die Gemeinden, wer das Bürgerrecht bekommt. Das spiegelt auch die föderalistische Schweiz. Warum wollen Sie das ändern?
Das Gemeindebürgerrecht ist ein Relikt aus den Anfangsjahren des Bundesstaats. Es ging vor allem darum, zu regeln, wer für die Bürger zuständig ist, wenn sie armengenössig wurden, also auf Unterstützung angewiesen waren. Das ist längst vorbei. Heute ist dieses System nicht mehr zeitgemäss, und es ist auch ungerecht.
Weshalb?
Ich kenne aus meiner Anwaltstätigkeit die Abläufe gut. Gerade in der Ostschweiz ist es leider so, dass es oft von der Gemeinde abhängt, ob man den Pass bekommt oder nicht. Es gibt jene, die das sehr offen angehen. Und andere, die alles machen, um Einbürgerungen zu verhindern.
Es ist doch gut, wenn es dort Spielraum gibt, wo man die einbürgerungswilligen Leute kennt.
Nein, es ist umgekehrt.
Wir brauchen einen ganz neuen Geist. Wir müssen anders umgehen mit dem Teil der Bevölkerung, der eingewandert ist. Heute sind die Hürden viel zu hoch, etwa bezüglich der Sprachkenntnisse. Da werden Leute, die nicht lange in der Schule waren, aber auf der Baustelle mitgeholfen haben, die Schweiz zu erbauen, diskriminiert.
Zahlen des Bundes zeigen, dass über eine Million Ausländerinnen und Ausländer die Wohnsitzbedürfnisse des Bundes erfüllen, aber kein Schweizer Bürgerrecht haben. Ist das Interesse am roten Pass gar nicht vorhanden?
Nein, der Grund ist unser restriktives Bürgerrecht, welches mit der letzten Revision noch weiter verschärft wurde. Das spiegelt sich auch in den Zahlen. Die Zahl der Einbürgerungen ist in den letzten Jahren sogar zurückgegangen, von 46'000 im Jahr 2017 auf zuletzt 35'000. Die Schweiz muss diesen Menschen endlich anders gegenübertreten. Heute signalisiert das Bürgerrecht: Wir wollen euch nicht. Wir müssen aber sagen: Wir wollen euch.
Sprechen wir über die Umsetzung. Schwebt ihnen das Bürgerrecht bei Geburt in der Schweiz für alle vor?
Es geht mir um den Verfassungsgrundsatz. Die Umsetzung erfolgt dann über die Gesetzgebung. In Deutschland steht beispielsweise im Koalitionsvertrag, dass ein Elternteil fünf Jahre im Land gelebt haben muss. So ähnlich könnte man das auch lösen. Geburtstourismus ist mit dem ius soli nicht gemeint.
Sie haben erwähnt, dass das Parlament die Einbürgerungshürden eher noch erhöht hat. Ihr Vorschlag wird es sehr schwer haben.
Beim Frauenstimmrecht schien es in der Schweiz auch lange unmöglich, etwas zu ändern. Jetzt wird es Zeit für einen neuen grossen Sprung nach vorne. Ich habe schon einmal, als junger Nationalrat, erlebt, dass auch der Bundesrat seine Meinung ändern kann. Das war 1992, als wir das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt haben. Der damalige CVP-Bundesrat Arnold Koller bekämpfte zuerst meinen Antrag – und liess sich dann von Arbeitgebern und Gewerkschaften umstimmen. Die Schweiz war hier anderen Ländern voraus.
Sie haben ihre Anfänge erwähnt. Mittlerweile sitzen sie seit 35 Jahren im Parlament, länger als jeder andere Bundespolitiker. Ist ius soli ihr letztes grosses Projekt, der letzte grosse Anstoss?
Es geht hier nicht um mich. Ich bin einfach der Meinung, dass wir ein völlig neues Kapitel aufschlagen müssen.
Es ist klar, dass das zu Auseinandersetzungen führen wird. Aber die Zeit ist reif dafür.
Ja, die heutige Lösung ist nicht ideal, ok. Aber deswegen muss man sie nicht mit einer Schnapsidee, wie dieser ersetzen.
Wer nur hier lebt, aber sich nicht mit der Kultur und den Gesetzen dieses Landes identifizieren kann, der soll NIEMALS das Bürgerrecht erhalten. Punkt.