Jede vierte Person, die in der Schweiz lebt, kann politisch nicht mitentscheiden. Ohne den roten Pass darf an der nationalen Urne weder gewählt noch abgestimmt werden.
Immer wieder wurde die Einbürgerung in der Schweiz thematisiert. Seit den 80er-Jahren stimmte die Schweizer Bevölkerung rund fünfmal über Einbürgerungsvorlagen ab. Eine einzige wurde angenommen: Seit 2017 können sich junge Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation erleichtert einbürgern.
Doch zu mehr Einbürgerungen hat die Abstimmung nicht geführt, im Gegenteil: 2017 liessen sich rund 46'000 Personen einbürgern. 2020 waren es gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft nur noch 35'000.
Akteure aus der Politik und der Zivilgesellschaft versuchen nun, etwas gegen die sinkenden Einbürgerungszahlen zu unternehmen. Vorstösse zur erleichterten oder automatischen Einbürgerung haben gerade Konjunktur. Wir haben uns vier Vorschläge genauer angeschaut und deren Chancen im Volk und der Politik einschätzen lassen.
Das Ius soli beschreibt das Geburtsortsprinzip: Wer in einem Land geboren wurde, soll automatisch auch das Bürgerrecht erhalten. Wer also in der Schweiz geboren wurde, soll den Schweizer Pass und politische Mitbestimmungsrechte haben.
Bereits vor 100 Jahren wurde über das Ius-soli-Prinzip diskutiert. Mit einer Motion, eingereicht Anfang März in der kleinen Kammer, will der SP-Ständerat Paul Rechsteiner die Diskussion erneut starten.
«Eine Ius Soli ist in der Schweiz chancenlos», sagt Thomas Kessler. Kessler war bis 2008 Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt und leitete danach bis 2017 die Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung. Das Bürgerrecht habe sich in der Schweiz in den Gemeinden entwickelt und sei im Prozedere an vielen Orten historisch tief verankert, so Kessler. «Es basiert auch auf Vertrauen. Auf ein Geburtsortsprinzip würde die Bevölkerung sehr sensibel reagieren. Die Befürchtung vor Geburtstourismus wäre zu gross.»
Für schwierig, aber nicht aussichtslos hält Barbara von Rütte die Chancen des Vorschlags von Rechsteiner. Die Rechtswissenschaftlerin forscht an der Universität Basel zur Frage der Staatsangehörigkeit als Menschenrecht. Es kommt auf den konkreten Vorschlag an. «Wenn beispielsweise Kinder von Eltern eingebürgert werden, die seit fünf Jahren in der Schweiz wohnen, hat der Vorstoss wohl bessere Chancen, als wenn jedes Kind eingebürgert wird, das einfach auf Schweizer Boden geboren wurde.»
Die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation soll erleichtert werden. Analog zur erleichterten Einbürgerung der dritten Generation, zu der das Volk 2017 Ja gesagt hat.
Die grüne Ständerätin Lisa Mazzone reichte diesen Vorstoss im März 2021 im Ständerat ein.
Die Chancen stehen nicht allzu schlecht. Zumal das Volk mit einer Mehrheit von 60 Prozent die erleichterte Einbürgerung der dritten Generation von Ausländerinnen und Ausländern 2017 bereits gutgeheissen hat.
Rechtswissenschaftlerin von Rütte sieht das ähnlich: «Eine Umfrage des Bundesamts für Statistik hat gezeigt, dass sich rund 59 Prozent der Befragten sogar für eine automatische Einbürgerung der zweiten Generation aussprechen, die Chancen stehen gut.»
Auch Thomas Kessler sieht eine Mehrheitsfähigkeit. Das Modell sei bekannt und die Bevölkerung scheine dieser Idee eher offen gegenüber. «Man vertraut den jungen Ausländerinnen und Ausländer eher, die hier zur Schule gegangen sind. Ist die Einbürgerung dann auch noch mit einem kleinen Test in Staatskunde verbunden, hat der Vorschlag womöglich gute Chancen.»
Kinder von ausländischen Eltern sollen ein Recht auf eine Einbürgerung erhalten, wenn sie ihre obligatorische Schulzeit in der Schweiz beendet haben.
Hinter dem Vorschlag steckt die Junge GLP.
Die Mehrheitsfähigkeit dieses Vorschlags sehen ähnlich aus wie bei der Einbürgerung der zweiten Generation. So sagt Rechtswissenschaftlerin von Rütte: «Es geht um Kinder, die hier aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Das lässt sich beim Volk gut vermitteln.»
Jede Person, die seit vier Jahren in der Schweiz lebt, soll unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Recht auf eine Einbürgerung haben. Zudem sollen Kinder, deren Eltern bei der Geburt ihren Wohnsitz in der Schweiz haben, automatisch den Schweizer Pass erhalten.
Initiiert wurde die «Aktion Vierviertel» von Menschen aus der Zivilgesellschaft, die sich beruflich mit dem Thema Migration, Demokratie und Politik beschäftigen.
Auch hier stehen die Chancen sicher besser als beim Ius soli. «Wenn es um Kinder geht, die in der Schweiz geboren wurden und deren Eltern schon in der Schweiz wohnen, ist das Missbrauchspotenzial gering», sagt von Rütte. Kessler ist etwas vorsichtiger bei Automatismen: «Ich würde, wenn ich das Komitee wäre, noch eine Sicherung einbauen, beispielsweise eine dem Alter angepasste Prüfung, um das Vertrauen zu stärken.»
Wer einige Jahre legal in der Schweiz wohnt, soll Anspruch auf das Schweizer Bürgerrecht haben. Zudem soll das Einbürgerungsverfahren zentral beim Bund stattfinden.
Diese Forderung wurde in einer parlamentarischen Initiative von der sozialdemokratischen Fraktion und federführend unter SP-Nationalrat Cédric Wermuth formuliert und Mitte Juni in der grossen Kammer eingereicht.
Wie lange man legal in der Schweiz gewohnt haben muss, definiert die SP zwar nicht im Detail. Die Chancen dürften sich aber ähnlich verhalten wie beim Vorschlag der «Aktion Vierviertel».
Schwieriger könnte es gemäss Kessler bei der Zentralisierung werden. «Die Schweiz ist von unten her basisdemokratisch aufgebaut. Wenn plötzlich von Bundesbern entschieden werden soll, wer in einer Gemeinde eingebürgert werden soll, könnte das auf Widerstand stossen. Die Gemeinden lassen sich kaum diese Autonomie nehmen.»
Am ehesten Chancen haben wohl jene Vorschläge, die eine erleichterte Einbürgerung einer zweiten Generation fordern und dabei die Gemeinden und Kantone möglichst wenig in ihren Kompetenzen beschneiden. Ein Ius soli wird es schwer haben im Parlament. So heisst es auf Anfrage bei FDP-Ständerat Caroni: «Das Ius soli lehne ich ab. Gegenüber Vorschlägen zur erleichterten Einbürgerung der zweiten Generation bin ich aber offen für überzeugende Verbesserungsvorschläge».
Auch Paul Rechsteiner ist sich bewusst, dass es ein Ius soli in der Schweiz nicht einfach haben wird. «Wir müssen sicherlich mit viel Entschlossenheit und einem langen Atem an die Sache rangehen.» Der Zeitpunkt passe gut, erklärt Rechsteiner. «Wir haben nun eine ganze Generation, die schon seit 20 bis 30 Jahren in der Schweiz lebt und kein Bürgerrecht hat. Das Bewusstsein hat sich verändert.»
Dass die Gesellschaft Einbürgerungsthemen derzeit offen gegenübersteht, finden auch Barbara von Rütte und Thomas Kessler. «Die Stimmung gegenüber Migrantinnen und Migranten ist viel positiver als noch vor zehn Jahren. Die Debatten über Kriminalität haben sich ausgelaufen, aktuell diskutieren wir eher über die fehlenden Fachkräfte», führt Kessler aus.
NEIN, einfach NEIN!
War ja klar das man das Pandemiejahr wählt und das Jahr mit der höchsten Einwanderungszahl in den letzten 10 Jahren um sein Argument zu verstärke. Diese Darstellung empfinde ich als tendenziös.
Quelle:
Für alle anderen soll bitte das Verfahren vereinheitlicht werden, nicht damit es zur Lotterie wird, in welcher Gemeinde man zufällig gelandet ist, damals vor zehn Jahren und welche Vorurteile die Kommission gerade hat.