Warum entscheiden wir uns häufig, arbeiten zu gehen, obwohl wir körperlich krank sind?
Nicola Jacobshagen: Weil wir immer denken, dass es Nachteile geben könnte, wenn wir nicht arbeiten gehen. Entweder weil wir schon so viele Krankentage hatten, oder weil wir das neue Jahr nicht gleich krank beginnen wollen. Wenn wir zu viele Krankentage haben, kann es auch passieren, dass das Ferienbudget angegriffen wird. Das will ja keiner.
Ist die Situation der bekannten TV-Moderatorin noch gravierender? Lastet auf ihr ein noch grösserer Druck?
Wir haben immer den Wunsch, unsere Arbeit gut zu erledigen. Das hängt mit unserem Stolz auf unsere Arbeit zusammen. Und da muss es nicht unbedingt um eine Sendung gehen, die von Tausenden von Menschen gesehen wird. Das betrifft auch Leute, die mit ihrem Job weniger in der Öffentlichkeit stehen. Auch die wollen immer für ihre Firma da sein und alles richtig machen.
Haben wir Angst, dass man uns ersetzt, wenn wir mal krank sind?
Absolut. Die Angst vor einem Stellenverlust ist immer da und sie stellt einen wichtigen Stressfaktor dar. Gerade jetzt, wo der Franken so stark ist und überall wieder die Rede von Kurzarbeit und Kündigungswellen ist, da ist diese Angst grösser denn je. Und daraus entsteht dieses Phänomen des Präsentismus: Wir gehen zur Arbeit, obwohl wir eigentlich krank sind.
Erteilen wir uns selbst ein «Verbot krank zu werden»?
Ja. Wir haben immer mehr das Gefühl, dass etwas nicht klappt, wenn wir nicht da sind. Und ersetzt werden kann jeder.
Wer ist schuld daran?
Der Druck kommt schon hauptsächlich von den Firmen. Da herrscht immer mehr das Prinzip «Man kann ja nicht bei jedem Schnupfen zu Hause bleiben». Das ist jedoch problematisch, denn dadurch gehen wir – wenn wir krank sind – häufiger zur Arbeit, als dass wir zu Hause bleiben und uns auskurieren.
Woher kommt dieser Druck?
Schuld ist das heutige System. Es wird an allen Ecken und Enden gespart. Und deswegen werden auch die Stellvertretungen mehr und mehr abgeschafft. Für Frau Boesch war offenbar keine Vertretung da. Auf uns würde ein geringerer Druck lasten, wenn wir wüssten, dass jemand da ist, der einspringen kann. Das Problem gibt es in allen Branchen. Darum sind unsere Ferien auch nicht mehr erholsam.
Wie meinen Sie das?
Weil wir keinen Stellvertreter mehr haben, wissen wir, dass unsere Arbeit während der Ferien nicht erledigt wird. Deswegen arbeiten wir vor den Ferien wie blöd und nach den Ferien müssen wir alles aufholen, was in der Zwischenzeit passiert ist. Es gibt eine Studie die besagt, dass der Erholungseffekt deswegen bereits nach drei Tagen wieder zerstört ist.
Ist es ein typisches Schweizer Problem?
Nein, davon ist ganz Europa und auch Nordamerika betroffen. Aus Asien gibt es leider noch kaum Zahlen.
Handelt es sich beim Präsentismus um ein neues Phänomen?
In den USA wird dies schon etwas länger erforscht. Hierzulande beschäftigt man sich seit etwa fünf Jahren damit. Und so kommen wir inzwischen auch an Zahlen, die uns eine Grundlage geben, um dagegen ankämpfen zu können.
Was sind das für Zahlen?
Es gibt beispielsweise eine Studie der SECO aus dem Jahr 2000. Daraus geht hervor, dass Stress am Arbeitsplatz in der Schweiz 4,2 Milliarden Franken kostet. Das entsprach damals 1,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Als die Studie im Jahr 2010 wiederholt wurde, lagen die Zahlen noch höher.
Wie kann der Stress Geld kosten?
Diese Berechnung setzt sich zusammen aus den Kosten für Medikamente, die in der Apotheke gekauft werden, aus Hausarztbesuchen, die stattfinden, um an verschreibungspflichtige Medikamente ranzukommen und aus den Fehlzeiten, die dadurch zustande kommen.
Gibt es auch konkrete Zahlen zum Phänomen des Präsentismus?
Dort ist man zu der folgenden Erkenntnis gekommen: Ein Angestellter, der krank zur Arbeit kommt, kostet das Unternehmen doppelt so viel Geld wie ein Angestellter, der tatsächlich zu Hause bleibt, wenn er krank ist.
Warum ist das so?
Wenn wir angeschlagen sind, arbeiten wir langsamer, unsere Aufmerksamkeitsspanne ist geringer, es passieren schneller Fehler und Unfälle. Dennoch ist unser Körper zu einer ganzen Menge fähig. Er will uns unterstützen und schüttet Stresshormone aus, dadurch wird beispielsweise die Verdauung runtergeschraubt. Das macht eine Magen-Darm-Grippe natürlich nur noch schlimmer. Aber wir sind trotzdem noch fähig, unsere Kernaufgaben zu erfüllen.
Das heisst?
Ein gut ausgebildeter Chirurg, der viel Übung hat, ist durchaus in der Lage, eine Operation gewissenhaft durchzuführen, obwohl er angeschlagen oder gestresst ist. Leiden tun aber die Sekundäraufgaben, die zum Beispiel administrativer Natur sind. Er vergisst anschliessend, etwas ins Krankenblatt zu schreiben oder eine wichtige Information weiterzuleiten.
Ist das Problem in manchen Branchen besonders ausgeprägt?
Heutzutage ist Präsentismus ein flächendeckendes Problem. Die beiden Gedanken «Wenn ich nicht da bin, läuft es nicht gut» und «Wenn ich nicht arbeiten gehe, verliere ich meinen Job», sind in allen Branchen vertreten. Denken Sie nur mal an die Kioskfrau, die morgens um 6 Uhr ihren Laden öffnen muss. Wenn sie morgens um 5 Uhr merkt, dass sie nicht fit ist, wird sie trotzdem arbeiten gehen. Denn sonst könnte sie ja ihre Stammkundschaft verlieren.
Was könnte man dagegen unternehmen?
Wichtig wäre es, dass in dem Bereich mehr aufgeklärt wird: Wenn man krank zur Arbeit geht, schadet man dem Unternehmen und das Unternehmen schadet seinen Angestellten, wenn sie dazu gezwungen werden, krank zu arbeiten. Die Sorgenkultur breitet sich immer weiter aus. Selbst wenn ein Angestellter krank zu Hause bleibt, so bleibt er dennoch über Handy, Festnetz und Internet für alle erreichbar. Denn ohne ihn könnte ja etwas schiefgehen. Ich zitiere diesbezüglich immer gern den französischen Philosophen Michel de Montaigne, der gesagt hat: «Mein Leben ist voller Katastrophen, die nie eigetreten sind.» Wir machen uns viel zu viel Sorgen.