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Interview

Tornado-Experte erklärt, warum es ausgerechnet La Chaux-de-Fonds traf

Lionel Peyraud ist ein Spezialist für Gewitter und Tornados bei Meteo Schweiz.
Lionel Peyraud ist ein Spezialist für Gewitter und Tornados bei Meteo Schweiz.bild: keystone/linkedin
Interview

Tornado-Experte: «Phänomen ist äusserst schwer voraussehbar»

Am Montagmorgen wütete in La Chaux-de-Fonds ein Tornado, der einen Toten, mehrere Schwerverletzte und immense Schäden zur Folge hatte. Am Wochenende wurde Mailand von einem ähnlich verheerenden Phänomen erschüttert. Wie konnte es so weit kommen? Ein Experte erklärt.
25.07.2023, 10:0525.07.2023, 10:14
Fred Valet
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Erklären Sie uns: War es wirklich ein Tornado, der in La Chaux-de-Fonds wütete?
Lyonel Peyraud: Wir müssen die uns vorliegenden Informationen noch bestätigen. Aber aufgrund der Daten, die wir mithilfe von Radar und Satelliten gesammelt haben, und auch aufgrund der Schäden, die wir gesehen haben, ist es durchaus möglich, dass La Chaux-de-Fonds von einem Tornado getroffen wurde.

Dass La Chaux-de-Fonds plötzlich gegen einen Tornado oder eine Fallböe dieser Heftigkeit ankämpfen muss, erscheint recht surreal. Ist das eine Ausnahme?
In den USA werden im Durchschnitt 1200 Tornados pro Jahr gezählt. Auf dem europäischen Kontinent wird in neueren wissenschaftlichen Artikeln von 170 bis 320 Tornados pro Jahr gesprochen. Tornados sind also nicht nur seltener, sondern oft auch weniger heftig und von kürzerer Dauer als in den USA. Aber auch in Europa treten sie mit einer gewissen Regelmässigkeit auf.

Wie viele Tornados gibt es denn sonst in der Schweiz?
Im Durchschnitt gibt es hier alle zwei Jahre einen Tornado. Wenn die richtigen Wetterbedingungen herrschen, können jedoch auch mehr Tornados entstehen.

Ist die Entstehung eines Tornados in Städten aufgrund der besonderen Topographie so selten?
Die Topografie einer Stadt hat keinen grossen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, von einem Tornado getroffen zu werden. Es ist eher die Topografie des Bergreliefs, die dazu führt, dass Tornados in unseren Breitengraden seltener auftreten. Ein Tornado ist in erster Linie ein lokal sehr begrenztes Phänomen, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einen bestimmten Punkt, wie etwa eine Stadt, trifft, extrem gering. Theoretisch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Stadtzentrum von einem Tornado getroffen wird, aber genauso hoch wie auf dem Land.

Wissen Sie, warum es ausgerechnet La Chaux-de-Fonds getroffen hat?
Auch wenn Tornados in bergigem Gelände seltener sind, kann das Muster bestimmter Regionen die Entstehung von Tornados begünstigen, da es die Winde leichter kanalisiert. Die Täler und Bergrücken des Jura sind dafür bekannt, dass sie in der Vergangenheit von starken Tornados heimgesucht worden sind. Es ist also nicht das erste Mal, dass ein Tornado in dieser Region für schwere Schäden verantwortlich ist.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit ein Tornado entstehen kann?
Zunächst braucht es die Zutaten für ein Gewitter, also Feuchtigkeit, Instabilität und einen Auftriebswind. Bei einem Tornado braucht es zusätzlich eine starke vertikale Windscherung und eine Verstärkung der Windgeschwindigkeit mit der Höhe – vor allem im ersten Kilometer über dem Boden. Wenn alle diese Elemente vorhanden sind und ein Gewitter im Gange ist, besteht eine – wenn auch geringe – Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Tornado bilden kann. Aber dieses Phänomen ist äusserst schwer vorhersehbar, umso mehr in unwegsamem Gelände mit stark gestörten Luftströmungen. Die Zugbahn des Gewitters wiederum wird die Zugbahn des Tornados bestimmen.

Ein Tornado auf dem Zürichsee im Jahr 2005.
Ein Tornado auf dem Zürichsee im Jahr 2005.keystone

War der Tornado, der am Montagmorgen über die Stadt La Chaux-de-Fonds hinwegfegte, vorhersehbar?
Mithilfe von Tools können wir Rotationen in Gewittern erkennen, aber das reicht oft nicht aus, um die Entstehung eines Tornados vorherzusagen. Da es sich um ein extrem schnell auftretendes Phänomen handelt, haben wir keine Zeit zu reagieren, wenn der Tornado bereits auf dem Boden aufschlägt und nach oben zieht. Wir wissen, was es für die Entstehung von Tornados braucht und welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, aber ihre genaue Entstehung versteht man bis heute noch nicht vollständig.

Gab es dennoch Anzeichen dafür, dass sich ein Tornado zusammenbraute?
Die uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge können uns davor warnen, dass sich ein mächtiger Sturm anbahnt, den wir genau beobachten müssen. Sie sind allerdings nicht dafür ausgelegt, einen Tornado an sich zu erkennen, der sich unter der Gewitterbasis bildet. Oftmals befinden sich die Radargeräte, die diese Gewitter abtasten, in den Bereichen über dem Boden, sodass es möglich ist, eine Rotation innerhalb des Gewitters selbst zu erkennen.

Wie in den USA?
In den USA bleiben die Tornados oft länger am Boden und es sind mehr erschwerende Faktoren vorhanden, sodass unsere amerikanischen Kolleginnen und Kollegen sie ein wenig besser vorhersagen können. In der Regel ist es aber selten mehr als 15 Minuten vor dem Eintreffen eines Tornados möglich, die Bevölkerung dort darüber zu informieren, dass sich ein Gewitter mit einem Tornado schnell in Richtung ihres Ortes bewegt.

War der Sturm am Montagmorgen stärker als erwartet?
Gestern haben wir eine Warnung vor möglichen schweren Gewittern in der gesamten Westschweiz und einem grossen Teil der gesamten Schweiz verschickt, die für den gesamten Montag gültig war. Danach werden, wenn Gewitter von unserem Radarnetz als besonders heftig erkannt werden, kurzfristig «Blitzmeldungen» gesendet, um die nachfolgenden Ortschaften so schnell wie möglich zu warnen.

«Im Fall von heute Morgen, als sich der Sturm bei La Chaux-de-Fonds stark intensivierte, konnte die ‹Blitzmeldung› erst gesendet werden, als der Sturm über die Stadt hinwegzog. Bei einer Gewittergeschwindigkeit von 60-80 km/h geht alles sehr schnell.»

In La Chaux-de-Fonds wurden am Montagmorgen buchstäblich Dächer weggerissen. Wie gut ist die Schweiz bautechnisch gegen Tornados gewappnet?
Unser Land ist wahrscheinlich besser gerüstet als die USA, insbesondere was die Architektur betrifft, da die Bauvorschriften strenger sind. Was das Verständnis des Phänomens angeht, ist die Schweiz jedoch deutlich weniger auf dem Laufenden als die Menschen, die im berühmten «Tornado Alley» in der Region der Great Plains in den USA leben.

Was kann die Bevölkerung tun, wenn sich ein Tornado bildet, um sich bestmöglich zu schützen?
Vor allem sollte man sich nicht im Freien aufhalten und es vermeiden, Schutz unter Brücken, insbesondere Autobahnbrücken, zu suchen, da diese den Wind kanalisieren und weiter verstärken können. Sie sollten Schutzräume bevorzugen, die als relativ robust gelten, wie Keller oder Räume, die durch tragende Wände oder sogar Rohrleitungen verstärkt werden. Es wird übrigens oft gesagt, dass Badezimmer eine gute Lösung sind.

«Um sich vor einem Tornado zu schützen, flüchten die Menschen in den USA oft mit einer Matratze über dem Kopf in die Badewanne, wenn sie keinen Keller oder Tornadoschutzraum haben.»

Wann gab es den letzten schweren Tornado in Europa?
In der Tschechischen Republik, am 25. Juni 2021. Ein Tornado der Stärke F4, der mehrere Todesopfer und Dutzende Verletzte gefordert hatte. Tornados dieser Stärke sind in Europa sehr selten, haben sich aber bereits in der Vergangenheit ereignet. Insbesondere am 19. August 1890 in Saint-Claude im Jura, als ein Tornado eine 81 km lange Bahn von Oyonnax über das Vallée de Joux bis nach Romainmotier zurücklegte.

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quelle: solent news / marko korosec/solent news & photo agency
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