Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe dauert in der Schweiz oft nur 15 Jahre. Zu wenig, findet FDP-Ständerat Andrea Caroni. «Die lebenslängliche Strafe ist heute eine Art Etikettenschwindel», sagte er gegenüber dieser Zeitung. Er will deshalb eine Verschärfung. Schliesslich sei die lebenslängliche Freiheitsstrafe die härteste Strafe in der Schweiz. In der Frühlingssession hat der Ständerat eine entsprechende Motion angenommen.
Frank Urbaniok (58) ist einer der einflussreichsten forensischen Psychiater der Schweiz. Er leitete 25 Jahre lang den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des Kantons Zürich. Urbaniok plädierte stets dafür, die Mehrheit der Täter professionell zu therapieren und die hochgefährlichen Unbehandelbaren präventiv wegzusperren – wenn nötig, für immer.
Die lebenslängliche Freiheitsstrafe sei ein «Etikettenschwindel» und müsse verschärft werden. Ist das so?
Die Diskussion über eine Verschärfung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe finde ich berechtigt. Es gibt Punkte, die diskussionswürdig sind, keine Frage.
Welche Punkte sind berechtigt?
Man kann sich fragen, ob der Abstand zur höchsten endlichen Freiheitsstrafe von 20 Jahren genügend gross ist. Heute ist es ja möglich, dass jemand mit einer Strafe von 20 Jahren bei guter Führung nach 13,3 Jahren freikommt. Jemand mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe kann bei guter Führung nach 15 Jahren bedingt entlassen werden. Der Unterschied ist geringer als in anderen Ländern. Da geht es letztlich um Verhältnismässigkeit. Ich finde die vorgeschlagenen Änderungen überlegenswert. Mir geht es aber vor allem darum, wie die Diskussion geführt wird.
Wie meinen Sie das?
Die Debatte darf nicht vereinfacht werden. Wer von «Etikettenschwindel» spricht oder wie beim Fall Rupperswil eine generelle Erhöhung der Grenze von 15 auf 60 Jahre fordert, wird der Thematik nicht gerecht. Das sind populistische Aussagen. Änderungen im Strafrecht und Justizvollzug sollten nicht vorwiegend emotional diskutiert werden, sondern möglichst nüchtern.
Das ist ein frommer Wunsch. Debatten über die Verschärfung von Strafen werden meist von grausamen Taten angestossen. Der Vierfachmord von Rupperswil hat die jüngsten Forderungen ausgelöst.
Das ist ein Problem, das sich leider nicht verhindern lässt. Doch eine Systemänderung sollte nie von einem Einzelfall ausgehen. Da lässt man sich zu stark von Gefühlen leiten. Von Einzelfällen ein Gesetz abzuleiten, ist immer gefährlich.
Weshalb?
Ein Einzelfall ist ein schlechter Ausgangspunkt, um etwas am System zu ändern. Er ist fast immer die Ausnahme. Ausnahmen haben aber seltene und sehr spezielle Gründe, sonst wären es keine Ausnahmen. Man soll das System wegen regelhafter Fälle ändern, nicht wegen der Ausnahmen. Besondere Vorsicht ist angebracht, wenn drakonische Automatismen gefordert werden. Sehr starre Regeln führen oft zu Ungerechtigkeiten, weil man dann vielen Einzelfällen nicht mehr gerecht werden kann. Wir dürfen diese Diskussion nicht den Schreihälsen und Vereinfachern überlassen, das wäre für die Demokratie fatal.
Sorgen härtere Strafen nicht für mehr Abschreckung?
Es gibt gute Gründe für härtere Strafen, aber Abschreckung ist keiner davon. Das weiss man aus kriminologischen Untersuchungen. Menschen, die sehr gefährlich sind und Vergewaltigungs- oder Sadismusfantasien in ihren Persönlichkeiten tragen, die gucken nicht ins Strafgesetzbuch und brechen dann die Tat ab, weil sie lieber nur zehn statt fünfzehn Jahre hinter Gitter wollen. Die schauen ins Strafgesetzbuch und denken sich: Ich muss sehen, dass ich nicht erwischt werde. Straferwartung spielt bei ihnen keine Rolle. US-Bundesstaaten mit Todesstrafe haben nicht geringere Mordraten. Verbrechen mit hohen Strafen verhindern zu wollen, ist eine Fehlüberlegung.
Was spricht gegen starre Regeln?
Starre Regeln mögen für einen Teil der Fälle richtig sein. Aber je starrer die Regel, desto weniger Flexibilität im Einzelfall. Es ist immer eine Gratwanderung. Wie viel Spielraum wollen sie der Praxis geben? Wenig Spielraum ist auch ein Ausdruck von Misstrauen gegenüber den Gerichten und Vollzugsbehörden. Dabei könnte man zum Beispiel statt einer starren und abstrakten Regel für alle Fälle den Richtern Instrumente in die Hand geben, um die gewünschten Verschärfungen in einem begründeten Einzelfall in der Praxis umzusetzen.
Welche denn?
In Deutschland gibt es das Prinzip der besonderen Schwere der Schuld. Das ist eine intelligente Konstruktion, die bei einer besonders grausamen Tat angewendet wird. Der Grundgedanke: Der Täter lädt so eine schwere Schuld auf sich, dass dies Konsequenzen für die Haftdauer haben muss. Der Richter hat damit ein Instrument in der Hand, das er anwenden kann, wenn er findet, eine Tat geht z.B. über einen «normalen» Mord hinaus. Er kann dann die vorzeitige Entlassung erheblich erschweren. Und ich muss kein Richter sein, um zu erkennen, dass bei einer Tat wie Rupperswil die besondere Schwere der Schuld zur Anwendung käme. Wer aber zentralistisch solche Anpassungen vornimmt, der muss aufpassen, dass die Praxis mitzieht. Denn, wenn die Änderungen den Richtern oder anderen Entscheidungsträgern nicht passen, werden sie ausgehebelt.
Sie spielen auf die lebenslängliche Verwahrung an, die mit der Verwahrungsinitiative eingeführt wurde.
Ich bin eigentlich kein grosser Fan der lebenslänglichen Verwahrung. Aber: Das Volk hat das Anliegen angenommen. Man hat viel investiert, wie man die Initiative umsetzen will. Ich war damals selbst in der Arbeitsgruppe. Die Aufgabe war schwierig. Aber ich finde den Weg, den man gefunden hat, praktikabel. Doch die Praxis hat ihn mit seiner Rechtsprechung ad absurdum geführt. Laut Bundesgericht gibt es keine dauerhafte Nichttherapierbarkeit – eine Aussage, die aus meiner Sicht auf einer methodisch falschen Argumentation beruht. Jedenfalls hat es die lebenslängliche Verwahrung dadurch bis jetzt in jedem Fall abgewiesen. Sie ist eine Totgeburt. Gleichzeitig haben die Diskussionen dazu geführt, die normale Verwahrung zu stigmatisieren. Die Zahlen der normalen Verwahrung sind seit Inkrafttreten der Verwahrungsinitiative rückläufig. Das System hat sich also teilweise genau gegenläufig zur ursprünglichen Absicht entwickelt. Dieses Eigenleben der Praxis muss man bei allen Änderungen mit einkalkulieren. Dabei sollten wir aus den Fehlern der 90er-Jahre gelernt haben.
Wie meinen Sie?
In den 90er-Jahren wurden lebenslänglich Verurteilte standardmässig nach 15 Jahren entlassen. Man hat nicht darauf geschaut, wie gefährlich eine Person ist. Sondern es galt die starre Regel: 15 Jahre sind verbüsst, ergo Entlassung. Das war ein Missstand. Die Folgen sind bekannt. Der Mord am Zollikerberg ist nur ein Beispiel. Damals herrschte ein anderer Zeitgeist. So wurden beispielsweise Verwahrte häufig nach etwa drei Jahren entlassen. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Die kamen noch früher raus als die mit den endlichen Strafen.
Eine totale Schieflage.
Ja. Die Risiken, die von einem Täter ausgehen, spielten damals gar keine Rolle. Auch wurden potenzielle Opfer komplett ausgeblendet. Es gibt noch heute Theoretiker, die sagen, wenn jemand eine Strafe abgesessen hat, dann wird der Zeiger auf Null gestellt. Wenn er herauskommt, dann hat er wieder das «Anrecht, eine Tat» zu begehen. Für die er natürlich wieder zu bestrafen ist. Sie sehen, das ist eine theoretische, abstrakte Diskussion. Für diese Vertreter ist es ein Graus, wenn etwas vermeintlich Unbestimmtes wie die Gefährlichkeit oder die Rückfallgefahr betont wird. Sie wollen starre Regeln, die in der Theorie wie eine mathematische Gleichung aufgehen.
Die bedingte Entlassung, die bei der lebenslänglichen Haftstrafe kritisiert wird, ist etwas Unbestimmtes.
Ja, denn sie betrachtet den Einzelfall. Viele Kritiker verkennen ihren Zweck und ihre Bedeutung. Die bedingte Entlassung ist ein wichtiges Puzzleteil im Justizvollzug. In unserem System sollen die Leute ja irgendwann wieder entlassen werden. Ziehen Sie ein paar Einzelfälle ab, die wirklich ihr ganzes Leben hinter Gittern verbringen, aber der Rest, nämlich mehr als 99 Prozent, wird irgendwann entlassen. Sie kommen am Tag x wieder raus. Und dann muss die Gesellschaft doch ein Interesse daran haben, dass die mit einem geringeren Risiko rauskommen, als sie reingegangen sind. Sich mit kontrollierten Lockerungen sukzessive diesem Punkt anzunähern, das ist der Sinn und Zweck der bedingten Entlassung. Das schlimmste, was man haben kann, sind Täter, die ihre Strafe bis zum letzten Tag hinter Gittern verbringen und dann Knall auf Fall freikommen. Dann ist das Risiko für die Gesellschaft am höchsten.
Vollzugslockerungen reduzieren dies?
Ja, denn dabei können die Behörden Regeln aufstellen. Keinen Alkohol oder keine Drogen beispielsweise. Wer dagegen verstösst, fällt wieder zurück. Es ist zudem wichtig, dass nicht zu spät mit Lockerungen begonnen wird. Dann hat man ein Pfand in der Hand. Gerade bei Leuten, die recht heikel sind, ist man froh, wenn das Druckmittel nicht nur fünf Tage beträgt, sondern fünf Jahre. Wer viele Jahre offen hat, ist eher motiviert mitzuarbeiten.
Kant
Snowy
Sehr richtig.
Gilt auch für alle anderen politischen Bereiche.
Ökonometriker
Daher ist es wichtig, dass die Reintegration der Täter bereits während der Haft geschieht. Beispielsweise durch Ausbildung, Arbeitseinsätze und auch (Eigen-)Verantwortung (wie die im Interview angesprochenen Regeln bei Haftlockerungen). Der Täter muss lernen, ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft zu sein.