Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ein wegweisendes Urteil gefällt. Er hat das seit 2011 in Frankreich geltende Burkaverbot für rechtens erklärt. Das Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit stelle keine Verletzung der Grundrechte dar, urteilten die Strassburger Richter.
Das Burkaverbot ist auch in der Schweiz Thema. Welche Folgen hat das Urteil für die Debatte in unserem Land? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
«Die Begründung des Gerichts ist nachvollziehbar», erklärt Urs Saxer, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Zürich, auf Anfrage. Er selber sehe ein solches Verbot kritisch und habe ein anderes Urteil erwartet, doch falsch sei es nicht: «Es handelt sich um ein allgemeines Verhüllungsverbot, das nicht gegen eine spezifische religiöse Gruppierung gerichtet ist.»
Ein reines Burkaverbot hätte keine Chance gehabt, glaubt Saxer. Ein weiterer Aspekt seien die nationalen Gegebenheiten: «In Frankreich gibt es tatsächlich Gegenden, in denen die Verschleierung einen Einfluss haben könnte auf das Zusammenleben.»
Die Schweiz hat die Europäische Menschenrechtskonvention 1974 ratifiziert und kann das Urteil des Gerichtshofes nicht ignorieren. Eine abweichende Rechtsprechung sei möglich, meint Saxer, insbesondere eine noch liberalere, grundrechtsfreundlichere Praxis.
Als erster Schweizer Kanton hat das Tessin im September 2013 mit 65,4 Prozent Ja einer Volksinitiative für das Verbot einer Gesichtsverhüllung an öffentlichen Orten zugestimmt. Der neue Verfassungsartikel muss noch von der Bundesversammlung in Bern genehmigt werden. Urs Saxer geht davon aus, dass das Strassburger Urteil dabei einfliessen wird. Bislang hat das Parlament allen Vorstössen für ein Verhüllungsverbot eine Absage erteilt. Im September 2012 lehnte der Nationalrat eine entsprechende Standesinitiative des Kantons Aargau ab, mit 93 zu 87 allerdings nur knapp.
Das Urteil aus Strassburg sei «sehr gut und sehr wichtig», sagt der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann. Er wirkt als treibende Kraft hinter einer Volksinitiative für ein Burkaverbot auf nationaler Ebene. Diese stehe «mehr oder weniger». Man warte noch die Beratung über die Tessiner Initiative in Bern ab, «dann starten wir», kündigt Wobmann an. Er fühlt sich durch die jüngsten Entwicklungen im Irak und in Syrien bestätigt: «Gegen die radikale Islamisierung muss etwas geschehen.»
Allerdings steht die SVP nicht geschlossen hinter dem Anliegen. Partei-Exponenten wie der Zürcher Nationalrat Gregor Rutz haben sich kritisch zu einem Burkaverbot geäussert. Der Staatsrechtler Urs Saxer hält auch nach dem Strassburger Urteil nichts von einem nationalen Verbot: «Ich sehe das Problem nicht.» Anders als in Frankreich begegne man im Alltag so gut wie nie einer verschleierten Frau, «höchstens in Tourismus-Regionen wie Interlaken».
Der Streit um das Kopftuch an öffentlichen Schulen hat die Burka in letzter Zeit in den Hintergrund gedrängt. Das Bundesgericht hat vor einem Jahr entschieden, dass zwei muslimische Mädchen in der Thurgauer Gemeinde Bürglen weiterhin mit dem Kopftuch zur Schule gehen dürfen. Die Grundsatzfrage der Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Schulen liess es aber offen. In Au-Heerbrugg SG haben die Stimmbürger im Februar einem Kopftuchverbot zugestimmt.
Offen bleibt vorerst, ob sich das Urteil vom Dienstag auf die Debatte auswirken wird. In St. Gallen und im Wallis haben SVP-Kreise Volksinitiativen für ein Verbot von Kopfbedeckungen an öffentlichen Schulen angekündigt. Rechtsprofessor Urs Saxer hat auch mit dieser Idee Mühe: Ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen sei angemessen, nicht aber für Schülerinnen, denn das Kopftuch habe keinen Einfluss auf den Unterricht: «Man müsste in diesem Fall auch die jüdische Kippa verbieten.»