Die SRF-Sendung «10vor10» berichtete am 12. April über den Fall des Satirikers Böhmermann in Deutschland und fragte: «Wäre so etwas auch in der Schweiz möglich?» Die Moderatorin bestätigte unbedarft ein Statement des Anwalts und Titularprofessors Urs Saxer: «In der Schweiz wäre dies nicht so einfach möglich».
Der über 4-minütige «10vor10»-Bericht hat die Zuschauenden nicht darüber informiert, dass der Bundesrat ausländischen Despoten schon mehrmals erlaubte, Kritiker in der Schweiz strafrechtlich verfolgen zu lassen. Der jüngste Fall liegt erst wenige Jahre zurück.
Als Ghadhafi gestürzt wurde, war vor Bundesgericht immer noch ein Strafverfahren hängig, das der libysche Herrscher gegen den Genfer Politiker Eric Stauffer vom Mouvement Citoyens Genevois (MCG) beantragt hatte, weil dieser den libyschen «Staat in Person seines Oberhaupts» beleidigt habe. Auf einem Abstimmungsplakat liess Stauffer den libyschen Diktator abbilden mit dem Zitat «Er will die Schweiz zerstören». Eine solche Aussage hatte Ghadhafi vor der Uno-Generalversammlung tatsächlich gemacht.
Das Schweizer Strafgesetzbuch kennt einen ähnlichen Straftatbestand wie das deutsche:
Dem Strafantrag eines ausländischen Regierungsmitglieds oder Diplomaten wird nur stattgegeben, wenn der Bundesrat seine Einwilligung gibt. Diese Einwilligung hängt wie in Deutschland nicht davon ab, ob der Strafantrag juristisch genügend begründet ist oder nicht – dieser Entscheid liegt bei den Gerichten –, sondern ob ein Strafprozess politisch opportun ist. Der Bundesrat kann wie die deutsche Kanzlerin willkürlich entscheiden.
Wegen «Beleidigung eines fremden Staates in Form seines Oberhauptes» kam es in der Vergangenheit nur vereinzelt zu Strafanträgen. Es waren Diktatoren oder Despoten, die im eigenen Land mit aller Härte gegen Kritik vorgehen und sich gegen ehrverletzende Kritik sowie Beleidigungen im Ausland zu wehren versuchten.
Viele Kommentatoren, auch in der Schweiz, appellierten an die deutsche Bundeskanzlerin, sie solle vor Erdogan nicht einknicken und sich von ihm nicht erpressen lassen. Diese Kommentatoren sollten sich wenigstens daran erinnern und erwähnen, dass auch der Schweizer Bundesrat dem Begehren Muammar Ghadhafis sofort stattgab und die Bundesanwaltschaft das Verfahren «ungewöhnlich rasch» vorangetrieben habe, wie Stauffer damals kritisierte. Libyen lieferte der Schweiz Erdöl bester Qualität und war ein guter Geschäftspartner vieler Konzerne. Infosperber hatte vor fünf Jahren darüber berichtet.
Nachdem in Libyen Unruhen ausgebrochen waren, forderte Stauffer vergeblich, dass das Verfahren eingestellt wird. Als Ghadhafi getötet wurde, lag das Strafverfahren für einen Zwischenentscheid immer noch beim Bundesgericht. Über die Einstellung des Verfahrens wurde nicht kommuniziert.
Über einen ähnlich gelagerten Fall hatte der Bundesrat Anfang der Siebzigerjahre zu entscheiden. Der Schah von Persien fühlte sich beleidigt, weil ihn die Westschweizer Satire-Zeitschrift «La pilule» (Die Pille) als persönlichen Besitzer von Mohnfeldern, Produzenten und Händler von Opium sowie als Mörder kleiner Haschisch-Konsumenten aufs Korn nahm. Nachdem der persische Monarch Strafantrag gegen «La Pilule»-Herausgeber Narcisse René Praz wegen «Beleidigung eines fremden Staates in Form seines Staatschefs» beantragte, gab der Bundesrat sofort grünes Licht (siehe Karikatur von Jean Leffel aus dem Jahr 1972). Darauf wurde Praz in einem Genfer Strafprozess «unter Berücksichtigung ehrenhafter Motive» zu ein paar hundert Franken Busse verurteilt.
Bei den von Schah Pahlavi und von Erdoğan angestrengten Strafverfahren ging es beide Male um persönliche Beleidigungen. Staatsmänner vertreten jedoch stets ihre Staaten, so dass persönliche Verunglimpfungen als Beleidigungen der betroffenen Staaten (in diesen Fällen der Türkei und des Irans) wahrgenommen werden können. Anders sah dies Urs Saxer, Titularprofessor für Staats- und Medienrecht an der Universität Zürich, in der Sendung «10vor10»: In der Schweiz sei ein Strafverfahren «nicht möglich», wenn ein fremder Staatschef nur «in seiner persönlichen Eigenschaft beleidigt worden ist» wie jetzt in Deutschland. Eine Rechtssprechung dazu sei ihm allerdings nicht bekannt, erklärte Saxer gegenüber Infosperber.*
Unterdessen hat Präsident Erdoğan zusätzlich in Mainz einen Strafantrag wegen Ehrverletzung gegen den Satiriker Böhmermann angekündigt (Art. 173-177 StGB). Möglich wäre auch noch eine zivile Klage. Für solche persönlichen Ehrverletzungsklagen braucht es keine Einwilligung der Regierung.
*Artikel 296 des Strafgesetzbuches (siehe oben) hat zwar zum Ziel, die Beziehungen zum Ausland nicht zu stören. Doch strafrechtlich verfolgen kann man nur eine natürliche Person und keinen Staat. Voraussetzung laut Strafgesetzbuch ist, dass ein (Staats-)-Oberhaupt oder Regierungsmitglieder oder ein offizieller Delegierter an einer Konferenz in der Schweiz öffentlich beleidigt wurde. Eine Beleidigung muss sich strafrechtlich immer auf ein persönlich verantwortetes Verhalten beziehen und nicht auf das Verhalten eines Staates. Wann eine Beleidigung eines Staatsmanns in der Schweiz einer Beleidigung des betroffenen Staats gleichkommt, darüber gibt es keine Rechtssprechung.