Am Donnerstagabend kam es zu einer Art Stunde null in der Klimastreikbewegung. Sechs Stunden lang – bis um Mitternacht – debattierten Aktivisten, ob sie die Aktionswoche gegen den Finanzplatz abblasen sollen.
Sie ist vom 30. Juli bis zum 6. August in Zürich und Bern geplant. Klimastreik, Extinction Rebellion, Collective Climate Justice und Break Free führen sie im Rahmen des Bündnisses «Rise up for Change» durch. Noch im September 2020 hatte es mit der Besetzung des Bundesplatzes für Aufsehen gesorgt.
Dass die Bewegung einen so drastischen Schritt diskutiert, ist aussergewöhnlich. Umso mehr, als sich die Pandemie dem Ende zuneigt. Das zeigt: Der Klimastreik steckt in der Krise - und er zeigt Anzeichen eines Burnouts. Das sagen selbst Aktivisten.
Dass es so weit kam, hat stark mit der Pandemie zu tun. Sie legte den Klimastreik über ein Jahr lahm und nahm ihm die Sichtbarkeit. Dazu kam der Schock des 13. Juni, als die Schweiz Nein sagte zu einem neuen CO2-Gesetz.
Dieses Nein setzt dem Klimastreik stärker zu als er nach aussen hin eingesteht. «Seither schlägt uns sehr viel Hass entgegen», sagt Jann Kessler, aktiv in der Mediengruppe des Klimastreiks und Rise up for Change. Der Klimastreik war bei der Abstimmung gespalten und tat nur wenig für das Gesetz.
— Klimastreik Schweiz 🔥 #StrikeForFuture (@klimastreik) June 13, 2021
Viele Mitglieder seien vom Nein überrascht worden, sagt Klimaaktivist Dominik Waser. Sie hätten damit gerechnet, dass das Gesetz klar durchkommt. «Auch deshalb haben sie nicht viel oder gar nichts für das Gesetz gemacht», sagt er. «Nun realisieren viele langsam, was das Nein bedeutet.»
Der Frust, zum Sündenbock gestempelt zu werden, mischt sich mit dem wachsenden Frust darüber, dass Politik und Finanzplatz aus Sicht der Bewegung fast nichts tun. «Die institutionelle Politik ist unfähig, eine angemessene Antwort auf die Klimakrise zu liefern», sagt Klimaaktivist Jonas Kampus. «Deshalb bin ich so hässig wie noch nie.»
Viele in der Bewegung seien «extrem frustriert», sagt Klimaaktivist Dominik Waser. Im Januar 2021 hatte die Bewegung einen 377 Seiten langen Klima-Aktionsplan vorgestellt mit 138 Massnahmen, wie die Schweiz bis 2030 netto null Treibhausgasemissionen erreichen kann. Die offizielle Politik nahm die Arbeit kaum zur Kenntnis.
Ähnlich erging es dem Klimastreik mit dem Finanzplatz. Ende 2020 führte die Bewegung ein aufwändiges Banken-Rating durch. 76 Finanzinstitute erhielten einen umfangreichen Fragebogen, den 35 Institute beantworteten, knapp die Hälfte. Die Folgerung des Klimastreiks: «Die Dringlichkeit der Klimakrise wird von den meisten Finanzinstituten nur ungenügend erkannt.»
Die Bewegung Klimastreik kämpft aber auch mit hausgemachten Problemen. Sie stösst mit ihrer Organisationsstruktur an Grenzen. Da sie dezentral und basisdemokratisch aufgebaut ist, sind die Entscheidungswege lang.
Bei der Aktionswoche gegen den Finanzplatz zeigt sich zudem, dass der Bewegung Ressourcen fehlen. Sie steht gut dotierten Kommunikationsabteilungen der Banken gegenüber. «Wir arbeiten alle unbezahlt», sagt Kessler. «Wir sind am Anschlag, denn wir haben einfach nicht genug Ressourcen. Zu viele Projekte werden von viel zu wenig Menschen getragen und das Setzen von Prioritäten fällt uns schwer.»
Für Klimaaktivistin Michelle Reichelt hat die Schweizer Politik hier ein Systemproblem. «Damit eine Bewegung in der Schweiz Gehör findet, braucht sie grosse Aktionen und grosse Demos», sagt sie. «Auf lange Sicht lassen sich diese aber nur mit Geld, Parteistrukturen oder vielen Leuten aufrechterhalten. Hier braucht es eine Veränderung im politischen System.»
Dass der Klimastreik öffentlich erstmals Probleme eingesteht, ist intern umstritten. «Es gibt Menschen die finden, die Bewegung dürfe ihre Schwächen und internen Konflikte nicht publik machen», sagt Jann Kessler – und betont: «Ich bin anderer Meinung.»
Die Bewegung befindet sich im Umbruch. Bis zur Pandemie prägten klassische bunte Klimademos von Jugendlichen mit Familien das Bild. Sie wurden inzwischen abgelöst von Aktionswochen des Bündnisses «Rise Up For Change», die den Druck auf die Politik mit zivilem Ungehorsam erhöhen sollen.
Dazu kommt der «Strike for Future». Am 21. Mai fand ein solcher statt – 30'000 Menschen kamen. Er will einen Wandel von unten nach oben schaffen: Über 200 lokale Klimastreik-Gruppen sollen für eine klimagerechtere Gesellschaft sorgen. Mit seinen lokalen Klimaversammlungen erprobt der Klimastreik neue Demokratieformen in der Schweiz. Zu Fragen der konkreten Lebensgestaltung der Menschen.
Zum Beispiel zur Frage, was ein schönes Leben ausmacht. Sie führt zur Systemfrage, die der Klimastreik immer lauter stellt. Er ist klassenkämpferischer und antikapitalistischer geworden. «Wir führen zurzeit viele strategische Diskussionen darüber», sagt Klimaaktivistin Anna Lindermeier, «welchen Weg wir gehen müssen, um die Emissionen zu reduzieren und wie wir genügend Menschen dahinter mobilisieren können, um wirklich eine Veränderung zu bewirken.»
Im Vordergrund steht eine Strategie, «um unsere verschiedenen Taktiken zu kombinieren», sagt Kessler vom Medienteam.
Das sei aber «extrem anspruchsvoll», sagt Kessler. Das kapitalistische System erweise sich als «sehr widerstandsfähig, hat viel Geld und ist gut vernetzt». Deshalb will sich auch der Klimastreik breiter abstützen. «Er strebt einen grossen Schulterschluss an mit Gewerkschaften, dem feministischen Kollektiv, mit NGO wie Greenpeace und WWF, mit der Bewegung #BlackLivesMatter und mit linken Westschweizer Bewegungen wie SolidaritéS», sagt Klimaaktivist Mattia de Lucia. «Mit diesem Bündnis erarbeiten wir Stück für Stück einen Plan für die Zukunft.»
Darin spielt ein landesweiter Generalstreik eine wichtige Rolle. Er soll Systemveränderungen möglich machen. Die Idee eines Generalstreiks wie der Landesstreik von 1918 kam im Herbst 2020 erstmals an einem nationalen Treffen des Klimastreiks auf. «Wir müssen Massnahmen ergreifen, die dem Ausmass der Klimakrise gerecht werden», sagt Klimaaktivist Kampus. «Deshalb muss das Ziel sein, auf einen ökonomischen Streik hinzuarbeiten.»
Es gehe darum, die Entscheidungsmacht über die Produktion für einen Moment aufzubrechen, sagt Klimaaktivist de Lucia. «Die Profitmaximierung ist ein wesentlicher Grund für die Klimakrise und soziale Ungleichheit.»
Und was beschloss das Bündnis «Rise Up For Change» zur Aktionswoche gegen den Finanzplatz? «Nach intensiver Diskussion haben wir entschieden: Doch, wir haben Vertrauen in uns, wir führen die Aktion gemeinsam durch!», sagt Jann Kessler.
Geplant sind Aktionen gegen die Privatbanken in Zürich und am 6. August eine grosse Demo vor der Nationalbank in Bern. Sie müsse «sofort aufhören», sagt Kessler, «unser aller Geld in klimaschädliche Projekte zu investieren.»
«Wir sind im Kampf gegen die Klimakrise an einem entscheidenden Punkt angelangt», sagt Klimaaktivist Jonas Kampus. «Wenn es den Klimastreik nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Es braucht die Kraft der Strasse.» (aargauerzeitung.ch)