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Extinction Rebellion: Zürcher Gericht spricht Klimaaktivistin schuldig

Trotz internationalen Drucks: Zürcher Gericht spricht Klimaaktivistin schuldig

Sie hat sich gemeinsam mit Hunderten anderen im Oktober vor drei Jahren auf die Strasse gesetzt, um den Verkehr in Zürich zu blockieren. Nun wurde die Klimaaktivistin der Nötigung schuldig gesprochen – trotz internationalem Druck aus Strassburg und Brüssel.
05.06.2024, 04:3205.06.2024, 11:14
Linda Leuenberger / ch media
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Es ist der Höhepunkt einer Justiz-Saga, die vor zweieinhalb Jahren ihren Anfang fand: Das Zürcher Obergericht hat am Dienstag eine Klimaaktivistin in zweiter Instanz der Nötigung schuldig gesprochen. Sie erhielt eine bedingte Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 30 Franken und muss die Verfahrenskosten von insgesamt 6100 Franken bezahlen. Die Probezeit beträgt drei Jahre.

Activists from the global environmental movement Extinction Rebellion during a protest on the Quaibruecke in Zurich, Switzerland, Saturday, June 20, 2020. (KEYSTONE/Alexandra Wey)
Aktivisten von Extinction Rebellion besetzten auch die Zürcher Quaibrücke. (Archiv)Bild: keystone

Was ist passiert? Die Aktivistin hatte gemeinsam mit Hunderten anderen Aktivisten der Organisation Extinction Rebellion in der ersten Oktoberwoche 2021 an unbewilligten Kundgebungen in Zürichs Innenstadt teilgenommen. Am 5. Oktober setzte sich die Beschuldigte mit einigen anderen Personen auf die Rudolf-Brun-Brücke. Ihr Ziel: den Verkehr in Zürich lahmzulegen und so nach eigenen Angaben eine «entschlossenere und effektivere Klimapolitik» zu fordern.

Damaliger Richter als «befangen» erklärt

Die nun verurteilte Klimaaktivistin war eine von vielen, die schliesslich von der Polizei fortgetragen und festgenommen wurden. Die heute 48-Jährige verbrachte zwei Tage in Haft. Das ist die Maximaldauer, die ohne richterlichen Beschluss verhängt werden darf. Zudem musste sie eine DNA-Probe geben und eine Leibesvisitation am nackten Körper über sich ergehen lassen.

Wie zahlreiche weitere Aktivistinnen wurde die Frau später per Strafbefehl zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Der Vorwurf: Nötigung. Die 48-Jährige focht das Urteil an und zog es vor Gericht. In der ersten Instanz am Bezirksgericht Zürich sprach Einzelrichter Roger Harris sie frei, vor allem wegen mangelhafter Beweiserbringung seitens der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft zog das Urteil sogleich weiter ans Obergericht – wie sie das konsequent mit allen Freisprüchen anderer Extinction-Rebellion-Aktivisten tat.

Der Bezirksrichter Roger Harris darf mittlerweile nicht mehr über Fälle von Klimaaktivisten urteilen. Das Bundesgericht hat ihn wegen Äusserungen als befangen erklärt, die er während des Verfahrens gegen die nun verurteilte Frau getätigt hatte. Er habe sich mit ihr solidarisiert.

Gemäss dem Onlinemagazin «Republik», das als einziges Medium an der Verhandlung vor Ort war, sagte er, er sei «nicht mehr bereit, friedliche Demonstranten schuldig zu sprechen». Zur Beschuldigten sagte er, sie solle sich nicht einschüchtern lassen. Und zu ihren Söhnen gewandt:

«Jungs, ihr könnt stolz sein auf eure Mutter.»

Hoffnung lag auf den Klimaseniorinnen

Vor dem Obergericht hatten die Beschuldigte und ihr Anwalt nun darauf gehofft, sich einerseits auf einen Brief von fünf UNO-Sonderberichterstattenden und andererseits auf das Klimaseniorinnen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beziehen zu können.

Die UNO hatte sich diesen Frühling in einem Brief besorgt gezeigt, wie die Schweizer Strafverfolgungsbehörden mit den Klimaaktivisten umgegangen waren. Sie schrieb unter anderem, die Schweiz müsse sicherstellen, dass friedliche Umweltschützer ihre Aktivitäten ohne Angst vor Kriminalisierung jeglicher Art durchführen könnten. Eine Woche später befand der EGMR in einem spektakulären und umstrittenen Urteil, die Schweiz tue zu wenig gegen den Klimawandel.

Internationaler Druck im Doppelpack also. Der Oberrichter Christoph Spiess zeigte sich davon aber unbeeindruckt.

Das deutliche Statement des Oberrichters

Der Beschuldigten werde kein Vorwurf gemacht, an einer unbewilligten Demonstration gewesen zu sein, sagte er in der Urteilsbegründung. «Bei zivilem Ungehorsam müssen die Behörden eine gewisse Toleranz walten lassen.» Die vorsätzliche Störung des Strassenverkehrs bleibe aber rechtswidrig. Der Klimawandel sei ein ernsthaftes Problem, räumte er ein, aber es gebe andere, tauglichere und straffreie Wege, um ihn zu bekämpfen.

Transparenzhinweis
In einer ersten Version schrieben wir, die Verfahrenskosten betragen 4100 Franken. Das ist falsch. Es sind 6100 Franken. Zudem haben wir präzisiert, dass sich die Beschuldigte am 5. Oktober 2021 auf der Rudolf-Brun-Brücke befand, als Sie festgenommen wurde.

Allerdings zweifelte der Oberrichter daran, ob die zweitägige Haft, die DNA-Probe und die Leibesvisitation durch die Polizei gerechtfertigt gewesen seien. Seiner Meinung nach: «grenzwertig». «Das riecht schon nach ‹Abschreckungseffekt›, wenn friedliche Demonstranten 48 Stunden weggesteckt werden», sagt er. So bekämen die Menschen Angst, für ihre Meinung einzustehen. «Und das wollen wir nicht.» (bzbasel.ch)

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206 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mühlkorn
05.06.2024 06:31registriert September 2023
Eine Leibesvisitation ist Teil der Prozedur, wenn man in Gewahrsam genommen wird und in einer Zelle übernachtet. Die Polizei kontrolliert, ob verbotene oder gefährliche Gegenstände auf dem Körper getragen werden, und entfernt z. B. Dinge, die zur Selbstgefährdung genutzt werden können. Das dient nicht zur Abschreckung, sondern ist die Gewährleistung des Eigen- und Fremdschutzes.
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@Jeff
05.06.2024 07:26registriert Juli 2023
"Trotz internationalen Drucks"
Gut das unsere Judikative nicht auf internationalen oder andere Druckversuche reagiert, denn diesem Druck nach zu geben würde heissen, das sie nicht mehr unparteiisch aufgrund unserer geltenden Gesetze urteilen. Solche Einmischungversuche und Übersteuerungsversuche von ausserhalb unseres Rechtsstaats sind konsequent zurückzuweisen!

Der Oberrichter hat mit seinen Aussagen Augenmass bewiesen👍
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Daniel Noger
05.06.2024 05:58registriert November 2022
Höchste Zeit dafür. Leute müssen ins Spital, arbeiten gehen, haben Vorstellungsgespräche und werden genötigt. Ich hoffe sehr, dass einige sie noch auf dem Zivilweg verklagen.
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