«Entschuldigung, gibt es hier auch Churros?» Yonas Gebrehiwet muss sich etwas bücken, um seinen Kopf durch das Fenster des Verkaufsstands zu strecken. Der Mann hinter dem Ladentisch hält kurz inne und kippt dann einen Stoss gebrannte Mandeln in ein Plastiksäcklein. Mit der Befüllschaufel in seiner Hand deutet er dann Richtung Hallenende. «Den Gang runter, die erste rechts.»
Freudig steuert der 23-Jährige sein Ziel an, umschifft geschickt die Passanten, die gemächlich zwischen den Marktständen entlang schlendern. «Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal Churros gegessen. Auf einem Festival im Sommer. Sooo lecker!», schwärmt er. Er entscheidet sich für die grosse Portion, mit Zimt und Zucker und einer extra Portion Schokoladensauce. Zufrieden schiebt er sich das Gebäck in den Mund, an seinen Fingern bleiben Zuckerbrösel kleben.
Die eritreische Diaspora in der Schweiz ist eine der grössten in Europa. Rund 40'000 eritreische Staatsbürger leben hierzulande, Gebrehiwet ist einer von ihnen. Sie gehen hier zur Schule, machen eine Lehre, studieren, arbeiten - längst sind sie ein wichtiger Bestandteil der Schweiz. Und doch gibt es wenig Berührungspunkte zwischen der eritreischen Community und Schweizerinnen und Schweizern. Dies, obwohl man sich einiges ähnlicher ist, als viele denken.
Weihnachten zum Beispiel. Als gläubiger Christ feiert Gebrehiwet Weihnachten, so wie ein Grossteil der Menschen in der Schweiz auch. Was heisst: Auf den letzten Drücker Geschenke besorgen, seiner Mutter beim Kochen helfen, Tannenbaum schmücken, Kerzen anzünden, im Kreis der Familie spachteln. «Das Essen variiert immer. Hauptsache ist, es gibt viel davon», sagt er und beisst genüsslich in seinen Churro.
Sein Blick schweift über die einladenden Markttheken und bleibt bei einem Schmuckstand hängen. Interessiert beugt er sich etwas vor, um grosse silberne Ohrstecker näher zu begutachten. Sie ähneln jenen, die er selbst am Ohrläppchen trägt. «Ich suche noch ein Geschenk für meinen Bruder», sagt er. Nach eingehender Untersuchung legt er den Stecker zurück. Er ist nicht überzeugt. «Aber zum Glück habe ich noch etwas mehr Zeit.» Denn das eigentliche Weihnachtsfest findet bei der Familie Gebrehiwet erst am 7. Januar statt.
Gut die Hälfte der Bevölkerung in Eritrea ist christlich, davon gehören die meisten der eritreisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche an. Sie richtet sich nach dem julianischen Kalender, gemäss dem die Geburt von Jesus auf den 7. Januar fällt. «Seit ich in der Schweiz bin, feiere ich also zweimal Weihnachten. Einmal Schweizer-Weihnacht und einmal Eritreische», sagt Gebrehiwet und klingt vergnügt. Wobei sich die eritreische gar nicht gross von derjenigen hier unterscheide. Die Strassen, Hauseingänge oder Fenster würden mit weihnächtlicher Belichtung dekoriert, um Mitternacht gingen viele zur Messe in die Kirche, zündeten Kerzen an, sängen Lieder.
Diese Verinnerlichung von zwei Kulturen, der schweizerischen und der eritreischen, fände er eine grosse Bereicherung. «Inzwischen kann ich nicht mehr sagen, welches Land mich mehr geprägt hat. Beide machen mich zu dem, was ich heute bin», sagt Gebrehiwet.
Er war 15 als er mit seinen drei Brüdern in die Schweiz ankam. Seine Mutter war schon hier und konnte ihn über den Familiennachzug herholen. Die vier Kinder wurden kurz nach ihrer Ankunft in Rheineck im Kanton St. Gallen in die Schule geschickt. «Es war hart, aber im Nachhinein wahrscheinlich das Beste, das mir passieren konnte.» Nach eineinhalb Jahren in der Schweiz fand er eine Lehrstelle als Texiltechnologe, machte danach die Berufsmatura und studiert heute Wirtschaftsingenieurwesen an der Fachhochschule. Seinem Schweizerdeutsch ist der St. Galler Einschlag deutlich anzuhören.
Klebrig-süsse Glühwein Dämpfe schwängern die Luft in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs. Immer mehr Menschen hetzen jetzt durch die Marktstände. Zu den Touristen und Bummlern mischen sich Pendler, die auf dem Nachhauseweg noch eine Duftkerze, ein kleines Engelchen aus Draht oder ein Paar Wollsocken kaufen. Ein Mann bleibt stehen und ruft erfreut: «Hey Yonas!» Händeschütteln, kurzer Smalltalk. Ein ehemaliger Lehrer, wie Gebrehiwet später erklärt.
Etwas nachdenklich hält er inne und sagt: «Ich hatte Glück und hab hier schnell Anschluss gefunden. Viele meiner Landsleute hatten oder haben nicht die gleichen Chancen, hier Fuss zu fassen. Sie bleiben isoliert.» Darum brauche es bessere Integrationsmassnahmen. «Je schneller die Asylsuchende in die Schule geschickt werden, einen Job finden oder sich in einem Verein engagieren, umso besser finden sie sich auch hier im Alltag zurecht.»
Aber vielleicht brauche es einfach noch etwas Zeit. «So wie bei anderen Einwanderer. Ich meine, was wäre die Schweiz heute ohne all die Secondos? Sie sind von hier nicht mehr wegzudenken.» Gebrehiwet lacht und fischt den letzten Churro aus der von Fritierfett durchtränkten Papiertüte. Er ist sich sicher: Irgendwann wird es auch mit den Eritreern so sein.