Anni Lanz fackelte nicht lange. Als die heute 74-jährige Baslerin erfuhr, dass Tom (Name geändert), ein von der Schweiz nach Italien abgeschobener afghanischer Asylbewerber, am 24. Februar 2018 bei Minustemperaturen im Bahnhof Domodossola gestrandet war, fuhren Toms Schwager und sie an den Ort des Geschehens. Sie wollten den jungen Mann, der zuvor mehrere Suizidversuche begangen hatte, wieder in die Schweiz zurückbringen. Die älteste Flüchtlingshelferin der Schweiz sah an diesem Samstag, als Tom an Erfrierungserscheinungen litt, keine Alternative, um ihn aus einer Notlage zu befreien.
Die Grenzwächter in Gondo stoppten das Unterfangen und schickten Tom zurück nach Italien. Lanz kassierte einen Strafbefehl wegen Förderung der illegalen Einreise. Es handelt sich um jenen Artikel im Strafgesetzbuch, der sich gegen professionelle Schlepper richtet. Das Bezirksgericht Brig und das Kantonsgericht Wallis bestätigten das Verdikt im Grundsatz: Lanz kassierte eine Busse von 800 Franken, ihr Vergehen wurde jedoch als leicht taxiert.
Lanz zog das Urteil ans Bundesgericht weiter und verlangte einen Freispruch. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisierten, es dürfe nicht sein, dass ein Akt der Nächstenliebe kriminalisiert werde. Die Richter in Lausanne haben jetzt aber das Verdikt gegen Lanz bestätigt. Sie argumentieren, die Beschwerdeführerin könne für ihr Vorgehen keinen Notstand geltend machen. Das heisst: In den Augen des Bundesgerichts hätte Lanz eine unmittelbare Gefahr für Tom auch anders abwenden können, als ihn die Schweiz zu schleusen - zum Beispiel, indem sie sich um Alternativen wie Notschlafstellen gekümmert hätte.
Bei einem Notfall, hält das Gericht fest, wäre auch eine Behandlung im Spital Domodossola oder in Mailand möglich gewesen. Und es leuchte nicht ein, weshalb Tom und Lanz nicht mit den Behörden, den Gesundheitsinstitutionen oder der Schweizer Grenzwache Kontakt aufgenommen hätten, falls Toms Verfassung derart dramatisch gewesen sei. Lanz ihrerseits gab in den Befragungen zu Protokoll, Tom habe die Schweizer Grenzwächter vergeblich um Hilfe gebeten. Die italienische Polizei habe ihm schliesslich lediglich einen windgeschützten Ort in einer Bauruine des Bahnhofs zugewiesen.
Sie habe nicht behauptet, Tom habe sich in unmittelbarer Lebensgefahr befunden, sagt Lanz.
Sie habe damals keine andere Lösung gesehen, als Tom aus rein humanitären Motiven in die Schweiz zurückzunehmen. «Er hätte Schaden genommen, hätte ich nicht geholfen», sagt Lanz zum Urteil aus Lausanne. Es zeige, wie hart im Ausländerrecht geurteilt werde. Amnesty International kritisierte, es sei zu viel verlangt, von einer Einzelperson alle möglichen Abklärungen vor Ort zu treffen und die italienischen Behörden - an einem Wochenende notabene - um Hilfe zu ersuchen.
Lanz erwägt, das Urteil an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weiterzuziehen, wie sie auf Anfrage mitteilt. Die ehemalige Sekretärin der Migrationsorganisation «Solidarité sans frontières» besucht noch immer regelmässig abgewiesene Asylbewerber in Ausschaffungsgefängnissen, schreibt Rekurse gegen Wegweisungen. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten für Flüchtlinge.
Wie es Tom heute geht, weiss Lanz nicht. Dessen letzter Facebookeintrag stammt vom Mai letzten Jahres. Nach dem Vorfall in Domodossola half ihm zunächst die Tessiner Flüchtlingshelferin Lisa Bosia, in Italien ein neues Asylgesuch zu stellen und eine Unterkunft zu erhalten. Nach einem Suizidversuch in Italien gelangte er mit Unterstützung von Bosia in eine psychiatrische Klinik. Er lache nie, sagte Bosia gegenüber unserer Zeitung. Seine Schwester und sein Schwager seien die einzigen Bezugspersonen in Europa.
Das Bundesgericht seinerseits hielt fest, Tom sei nach der gescheiterten Einreise in die Schweiz in einer italienischen Psychiatrie behandelt worden. Im Entlassungsbericht sei ausdrücklich vermerkt, die Psychiatrie garantiere die gesundheitliche Versorgung des Patienten. Tom beging in Italien mehrere Suizidversuche.