Mythen sind mit Gefühl aufgeladene, sinnstiftende Erzählungen. In ihrer politischen oder historischen Spielart vermitteln sie kollektive Identität. Im Gegensatz zu Märchen erheben sie in aller Regel Anspruch darauf, die Wirklichkeit durch ihre Deutung abzubilden. Dies geschieht meist in vereinfachter, oft stark personifizierter Form.
Gerade in der Schweiz mit ihren stark ausgeprägten sprachlichen und konfessionellen Unterschieden spielen historische und politische Mythen eine wichtige Rolle – und sind deswegen auch oft Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.
Der römische Feldherr Julius Cäsar beschreibt in seinem Werk «De bello Gallico», wie die Stämme der Helvetier im Jahr 58 v. Chr. ihre Städte, Dörfer und das Getreide verbrannten und nach Gallien zogen, um sich dort anzusiedeln. Angeführt wurden sie von Divico, der einst den Römern in der Schlacht bei Agen eine bittere Niederlage zugefügt hatte. Nachdem jedoch Cäsar die Helvetier in der Schlacht bei Bibracte vernichtend geschlagen hatte, mussten die Überlebenden in ihr Land zurückkehren.
Heute ist dieser Mythos etwas verblasst; aber im 19. Jahrhundert konnte es Divico durchaus mit Wilhelm Tell aufnehmen, wenn es um die Frage ging, wer als Nationalheld der Schweiz gelten sollte. Moderne Historiker sehen jedoch in Cäsars Angaben propagandistische Motive und gehen nicht mehr von einer regelrechten Auswanderung der Helvetier aus, sondern eher von Raubzügen kleinerer Stammesgruppen. Es gibt auch keine archäologischen Spuren, die die Verbrennung der keltischen Ortschaften belegen könnten.
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Und nun zurück zur Story ...
Jedes Kind kennt die Szene: Wilhelm Tell schiesst auf Geheiss des tyrannischen Landvogts Gessler seinem Sohn Walter mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf. Der unmenschliche Befehl Gesslers war die Strafe dafür, dass der freiheitsliebende Tell den auf einer Stange prangenden Hut des Vogts nicht grüssen wollte. Neben dem Apfelschuss sind weitere Elemente der Tell-Saga der Sprung Tells vom Nauen auf die Tellsplatte und dann die Ermordung Gesslers in der Hohlen Gasse.
Die Existenz Wilhelm Tells ist historisch nicht nachgewiesen. Zeitgenössische Quellen erwähnen ihn nicht; sein Name (in der Form «Tall») und die Erzählung vom Apfelschuss tauchen erstmals um 1470 im Weissen Buch von Sarnen auf. Ein äusserst ähnlicher Apfelschuss kommt bereits um ca. 1200 in den Gesta Danorum («Geschichte der Dänen») von Saxo Grammaticus vor. Der Schütze heisst dort Toko; auch er reserviert wie Tell einen zweiten Pfeil für den Tyrannen und ermordet diesen aus dem Hinterhalt. Die Chronisten des 15. Jahrhunderts übernahmen die Sage, um den Bericht über die Befreiung der Eidgenossen vom habsburgischen Joch zu personalisieren und zu dramatisieren.
Auch der Rütlischwur wird erstmals 1470 im Weissen Buch von Sarnen erwähnt, allerdings noch ohne Datumsangabe. Im folgenden Jahrhundert legte der Historiker Aegidius Tschudi das Datum in seinem Werk «Chronicon Helveticum» auf den 8. November 1307 fest. Noch 1907 feierte man in Altdorf das 600-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft, und auch auf dem Tell-Denkmal dort prangt diese Jahreszahl. Mit der Zeit kam jedoch die Vorstellung auf, der Rütlischwur sei schriftlich besiegelt worden. Ab Ende des 19. Jahrhunderts sah man dieses Dokument im «Bundesbrief» von 1291 – der wiederum den 1315 geschlossenen Bund von Brunnen zunehmend als Gründungsakt ersetzte.
Der Sage nach besiegelte der Rütlischwur den Bund gegen die Tyrannei der habsburgischen Vögte. Nach Tells Anschlag auf Gessler kam es demnach zu einem Aufstand und die Zwingburgen der Habsburger wurden geschleift – der berühmte «Burgenbruch». Aber der Burgenbruch, der wie Tell-Sage und Rütlischwur Teil der erst um 1470 fixierten Befreiungssage ist, lässt sich archäologisch nicht nachweisen. Alle wichtigen Innerschweizer Burgstellen wurden zu unterschiedlichen Zeiten zerstört; keine davon aber im Jahr 1291. Zudem handelte es sich bei den meisten Burgen nur um bescheidene Wohntürme, in denen es keinen Platz für eine Garnison gab.
In der Schlacht bei Sempach im Juli 1386, so heisst es, kamen die Eidgenossen in arge Bedrängnis. Gegen die langen Spiesse der habsburgischen Ritter fanden sie kein Mittel und es gelang ihnen nicht, die feindliche Phalanx aufzubrechen. Bis der Nidwaldner Held Arnold Winkelried sich aufopferte, indem er ein Bündel der Habsburger Lanzen packte und sich damit selber aufspiesste. So öffnete er seinen Mitstreitern eine Bresche, durch die sie mit ihren Hellebarden in die Reihen der Ritter einbrechen und ihnen eine vernichtende Niederlage zufügen konnten. Seine letzten Worte sollen «Sorget für mein Weib und Kind» oder «Der Freiheit eine Gasse!» gelautet haben.
Leider kennen weder die Berner Chronik noch die Tschachtlanchronik, die zwischen 1470 und 1513 entstanden und beide die Schlacht von Sempach detailliert beschreiben, die angebliche Heldentat. Sie wurde 1467 zwar in der Zürcher Chronik erstmals erwähnt, jedoch ohne Nennung des Namens – dieser taucht erst 1533 im Halbsuterlied zum ersten Mal auf. Immerhin wird 1367 in einer Urkunde ein Erni Winkelried erwähnt. Möglich ist, dass Aegidius Tschudi den Helden nach dem Hauptmann Arnold Winkelried benannte, der 1522 in einer Schlacht fiel.
Im September 1515 erlitten eidgenössische Truppen bei Marignano eine vernichtende Niederlage. Sie war nicht zuletzt die Folge der auseinanderstrebenden Interessen der verschiedenen eidgenössischen Orte und markierte das Ende der Grossmachtbestrebungen der Dreizehn Alten Orte. 1691 wurde Marignano erstmals als Beginn einer schweizerischen Neutralitätspolitik interpretiert: Fortan habe sich die Alte Eidgenossenschaft nicht mehr in «fremde Händel» eingemischt. Besonders wichtig wurde der Rückgriff auf eine angeblich jahrhundertealte Tradition der Neutralität, nachdem mehrere Grossmächte 1889 der Schweiz gedroht hatten, ihr den 1815 gewährten Neutralitätsstatus zu entziehen. 1895 erschien die «Geschichte der schweizerischen Neutralität» des Historikers Paul Schweizer, die den Nachweis erbringen wollte, die Neutralität sei eine Schweizer Tradition.
Sicher ist, dass eine gemeinsame eidgenössische Aussenpolitik nach Marignano und endgültig nach der Reformation, die die Eidgenossenschaft in zwei Lager spaltete, kaum mehr möglich war. Mit der «Ewigen Richtung» von 1516, dem Friedensvertrag mit Frankreich, gaben die Eidgenossen ihre Stellung als eigenständige Grossmacht auf. Neutral waren sie jedoch nicht, sondern eher ein Juniorpartner Frankreichs, das bevorzugt auf das nach wie vor enorme eidgenössische Söldnerreservoir zugreifen durfte. Es dauerte bis 1674, als sich die Tagsatzung im Französisch-Niederländischen Krieg erstmals zu einem «Neutral Standt» erklärte. Die moderne Neutralität der Schweiz geht jedoch auf den Wiener Kongress von 1815 zurück.
Völlig überraschend überrannte die Wehrmacht im Juni 1940 die französische Armee und machte damit die defensive Strategie des Schweizer Generalstabs zur Makulatur. Die sogenannte «Limmatstellung» gegen einen Angriff aus dem Norden war nun aufgrund der Einkreisung durch die Achsenmächte nicht mehr zu halten. Die Alternative sahen die Militärs im Réduit: Bereits bestehende Festungswerke im Alpenraum sollten ausgebaut und verbunden werden, so dass ein Angreifer mit langwierigen und verlustreichen Kämpfen zu rechnen hätte, falls er sich der strategisch wichtigen Nord-Süd-Verbindungen durch die Alpen bemächtigen wollte.
Am 25. Juli 1940 informierte General Henri Guisan die höheren Offiziere auf der symbolträchtigen Rütliwiese über den Réduit-Plan. Der sogenannte Rütlirapport stärkte den Widerstandswillen tatsächlich, wurde aber auch im Rückblick stark verherrlicht. Das Réduit, das nach dem Krieg gegen den neuen Feind im Osten beibehalten wurde, erstarrte ebenfalls zum Mythos. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde ideologisch abgerüstet. Nun wurden auch Stimmen lauter, die es nicht dem Réduit und der Armee als Verdienst anrechneten, dass die Schweiz verschont geblieben war. Sie wiesen darauf hin, dass unser Land als Bankenplatz und als vor alliierten Bombern geschützte Rüstungsproduzentin für Nazi-Deutschland wichtig gewesen sei.
(dhr)
Meiner Meinung nach ist die Faktenlage ziemlich klar (archeologisch nachgewiesen): Bewiesen ist eine grosse Schlacht südlich vom heutigen Autun im Burgund. In Caesar's Memoiren ist die Rede von 6 Legionen und einer ungefähr 100'000 Mann starken gallischen Armee. So weit weg von Ihrem "eigenen" Land muss es fast eine Völkerwanderung gewesen sein.