Felssturz-Modell simuliert nach Blatten Dutzende Gefahrenstellen
Ein neues 3D-Modell von Schweizer Forschenden kann Bergstürze präzise vorhersagen. Das Ausmass des Bergsturzes von Blatten hätte das Modell korrekt ermittelt. Nun simulieren die Wissenschaftler damit an einem Dutzend weiteren Orten in der Schweiz mögliche Felsstürze.
Unter anderem am Spitzen Stein in Kandersteg BE, wie Johan Gaume im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagte. Gaume forscht an der ETH Zürich und am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Zusammen mit weiteren Forschenden hat er das neue 3D-Modell entwickelt.
Ein erstes Mal unter Beweis stellte sich das 3D-Modell im Jahr 2023 in Brienz GR. Nachdem das Bergdorf evakuiert worden war, sagte das Modell korrekt voraus, dass die Felsmasse kurz vor den ersten Häusern zum Stillstand kommen würde. Die Einschätzung hatten die Forschenden vor dem Vorfall informell mit den kantonalen Behörden geteilt.
In Blatten kam der Bergsturz zuvor
Als dann im vergangenen Frühling in Blatten VS ein Bergsturz drohte, führte das Forschungsteam auch dort Simulationen durch. Ihr Ziel war es, das Vorhersagemodell in einem Szenario zu testen, das noch komplexer war als das von Brienz – schliesslich spielte in Blatten neben Felsen und Schutt auch Eis eine Rolle. Zudem ist das Gelände ist sehr komplex.
Das Ergebnis überraschte den Wissenschaftler: Die Simulation zeigte, dass der Bergsturz beinahe den Weiler Weissenried erreichen würde, der auf dem gegenüberliegenden Hügel des bergsturzgefährdeten Kleinen Nesthorns, rund 200 Meter oberhalb von Blatten, liegt. «Das wirkte etwas unrealistisch», so Gaume. Weil sich das Modell noch in der Versuchsphase befand, gingen die Forschenden vorsichtig vor. Sie planten, das Ergebnis zunächst mit anderen Kollegen zu verifizieren, bevor sie es mit den Behörden teilten.
Doch der Bergsturz kam ihnen zuvor – und die Simulation bewahrheitete sich. «Jetzt wissen wir, dass wir ein leistungsfähiges Tool haben und sind bereit für das nächste Ereignis», sagte Gaume.
Wenn der Spitze Stein in den See fällt
Die grosse Stärke des neuen Modells sei, dass es, anders als die Modelle, die bereits zuvor im Einsatz waren, dreidimensionale und nicht nur zweidimensionale Simulationen erstellt. «Felsrutsche sind komplexe 3D-Prozesse, und mit unserem Modell ergibt sich diese Komplexität ganz natürlich aus der Physik der Simulation», so der Forscher. Zweidimensionale Modelle können beispielsweise nicht erfassen, wann sich die rutschende Masse vom Gelände löst oder wie sie genau auf steile, sich abrupt verändernde Topografie wie Klippen oder Dämme reagiert.
Zurzeit arbeiten die Forscher unter anderem an Simulationen beim Spitzen Stein in Kandersteg. Dort ist seit 2019 eine grosse Felsmasse in Bewegung, und Behörden befürchten einen Felssturz. Mit ihrem Modell simulieren die Forschenden nun mögliche Worst-Case-Szenarien. Anders als andere Modelle ist das 3D-Modell laut Gaume in der Lage, die Wechselwirkung zwischen einem Felssturz und dem nahegelegenen Oeschinensee zu simulieren. Wenn grosse Mengen Gestein in einen See stürzen, kann das zu gefährlichen Flutwellen führen, die wiederum Wanderwege oder andere Infrastrukturen bedrohen. Mit dem 3D-Modell lässt sich dieses Szenario vorhersagen und untersuchen.
Ausserdem werden die Forschenden bald mit dem Kanton Wallis zusammenarbeiten, um für andere potenziell gefährdete Orte Simulationen durchzuführen. (sda)
