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Rudern: Manipulation im Leistungszentrum in Sarnen

Swiss Rowing
Viele Athletinnen und Athleten fühlten sich aufgrund der Machtverhältnisse im Nationalen Leistungszentrum von Swiss Rowing psychisch nicht mehr gesund.Bild: AP

«An jedem Tag hat jemand anderes geweint»: Wie Manipulation Ruderer krank gemacht hat

Die Kultur im Trainingszentrum in Sarnen hat Ruderinnen und Ruderer körperlich und mental über die Grenzen der Leidensfähigkeit getrieben.
11.03.2025, 11:2911.03.2025, 11:29
Rainer Sommerhalder, Claudio Zanini und Raphael Gutzwiller / ch media
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«Was wir erlebt haben, war nicht gesund – weder für den Körper noch für den Kopf.»

«Es gab nur seinen Weg oder keinen. Es flossen so viele Tränen.»

«Sie entschieden über dein Leben.»

«Ian Wright führte sich wie ein Diktator auf.»

«Du fühlst dich immer in einem Loch. Und wenn du versuchst, dort rauszukommen, dann drückt er dich wieder rein.»

«An jedem Tag hat jemand anderes geweint.»

«Ich sagte, ich sei schmerzfrei, dabei war ich überhaupt nicht schmerzfrei. Aber nur so konnte ich mir die Chance auf Olympia bewahren.»

«In seiner Welt heisst krank sein, schwach sein.»

«Ich kam mir in diesem System wie eine Ameise vor, die gut genug ist, solange sie ihre Arbeit verrichtet. Auf die man aber jederzeit auch nach Lust und Laune drauftrampeln kann.»

«Es gibt in Sarnen eine auffällige Häufigkeit von psychischen Leiden.»

Im Frühjahr 2024 wandten sich Personen aus der Ruderszene an uns. Die Situation im Nationalen Trainingszentrum in Sarnen sei nur schwer auszuhalten. Die Betroffenen hatten das Gefühl, dass nur der Weg an die Öffentlichkeit eine Chance auf echte Veränderungen bietet.

Wir führten Gespräche mit 27 Personen: aktive und ehemalige Athleten, Bezugspersonen, Coaches, Vereins- und Verbandsvertreter sowie Fachleute aus dem Gesundheits- und Trainingsbereich. Einige der aktiven Ruderer wollten nur anonym sprechen – aus Angst vor den Konsequenzen.

Der Trainer, der niemandem vertraut

Die Vorwürfe zielen auf Cheftrainer Ian Wright und Verbandsdirektor Christian Stofer. Der Neuseeländer Wright gewann als Ruderer 1988 eine Olympiamedaille. Er war zwischen 2014 und 2016 ein erstes Mal Nationaltrainer der Schweiz und feierte mit dem leichten Vierer einen Olympiasieg in Rio. Danach zog es Wright nach Australien. Auch hier gab es Olympia-Gold, 2021 in Tokio. Trotzdem soll eine Mehrheit der Athleten einen Wechsel auf der Trainerposition gefordert haben. Im Januar 2022 kehrte Wright als Cheftrainer zu Swiss Rowing zurück.

Ian Wright
Der Neuseeländer Ian Wright war zwischen 2014 und 2016 sowie zwischen 2022 und 2024 Schweizer Nationaltrainer in Sarnen. Ende Jahr wechselte er nach China.Bild: Keystone

Wright, 63, wird als Kontrollfreak beschrieben: «Er vertraut niemandem ausser sich selbst», sagt ein Involvierter. Dazu passt folgende Erzählung: Kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz rutschte Wright am Bootssteg aus und brach sich mutmasslich den Arm. Der Neuseeländer weigerte sich, einen Arzt aufzusuchen. Erst bei einem späteren Aufenthalt in der Heimat begab er sich in Behandlung.

Christian Stofer ist seit 2008 Direktor von Swiss Rowing. Er ist ebenfalls ein ehemaliger Spitzenruderer. Viele Athletinnen und Athleten loben sein Engagement für den Schweizer Rudersport. Gleichzeitig wird der 49-Jährige heftig dafür kritisiert, dass er sich stets hinter den Trainer gestellt hat. Hier ein Trainer, der seine Macht gegenüber den Sportlerinnen und Sportlern bis zur Grenze oder darüber hinaus ausreizte. Dort ein Verband, der seine Fürsorgepflicht gegenüber den Athleten nicht wahrnahm. Davon handelt diese Recherche.

Das System basiere auf «Peitsche, Peitsche, Peitsche». Nur die Stärksten überlebten und feierten Erfolge – «Darwin'sche Trainingsphilosophie», nennt sie ein Trainingsexperte und fragt: «Aber was ist mit all jenen, die daran zerbrochen sind und teilweise schon in jungen Jahren – oft körperlich und mental gebrochen – den Bettel hingeschmissen haben?» Und er resümiert: «Das Leben in Sarnen war definitiv nicht gesund.»

Keine Wertschätzung für den Menschen

Die Vorwürfe gleichen sich. Es ist nicht primär die Kritik am überharten Trainingsprogramm, in welchem keine Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, Alter, Gewichtsklasse, Trainingszustand, körperliche Situation oder mentale Verfassung gemacht wurden. Sondern an der Art und Weise. Wright habe keinen Respekt vor den Sportlern gezeigt. Wer krank oder verletzt war, galt als schwach. Viele Athleten und Athletinnen hätten unter ständigem Stress und mit Angst gelebt, sagt eine Betroffene.

Stark zu schaffen machte den Sportlern der Umstand, dass Wright und Stofer sie nicht als gleichwertige Gegenüber respektierte. «Man wurde behandelt wie ein 13-Jähriger, der keine Ahnung hat, was gut für ihn ist», sagt Augustin Maillefer. Der frühere Olympiateilnehmer, der heute lieber für Alinghi in die Pedalen tritt als auf Spitzenniveau zu rudern, sagt: «Ian Wright hat keine Ahnung von Training. Und das ist traurig, weil viele denken, er sei ein Toptrainer.»

Maillefer weiss, wovon er spricht: Er ist Sportwissenschafter. Und er ist nicht der Einzige, der die Trainingsmethoden von Wright kritisiert. Ben Carr, ebenfalls Sportwissenschafter und Partner der Spitzenruderin Frédérique Rol, sagt: «Es herrschte eine Mentalität, wonach nur diejenigen erfolgreich sein können, die extremen Belastungen standhalten. Sportwissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert, und es gibt kaum Unterstützung für Athleten dahin gehend, sich physisch und mental zu regenerieren.»

Auch der frühere Olympiaruderer Nico Stahlberg äusserte sich nach seinem unfreiwilligen Austritt aus dem Kader im August 2020 sehr kritisch gegenüber den Strukturen in Sarnen. Sportlich hatte er die Olympischen Spiele Tokio und Paris im Kopf, aber er fand sich in Bezug auf den richtigen Weg nicht mit den Verantwortlichen im Verband. «Ich spürte wenig Wertschätzung. Ich hatte am Ende das Gefühl, dass ich nur eine Nummer war, die einfach ersetzt wurde», sagte er damals gegenüber dieser Zeitung.

Jeannine Gmelin war vom Erlebten schockiert

Jeannine Gmelin war als Weltmeisterin von 2017 im Skiff das erste weibliche Aushängeschild im Schweizer Rudersport. Sie löste sich 2019 vom Verband und trainierte mit ihrem Partner Robin Dowell bis zu dessen tragischem Tod. Drei Jahre später kehrte Gmelin für das Olympiajahr 2024 nochmals in die Strukturen von Swiss Rowing zurück. Und sie war schockiert.

«Ich ging mit einem offenen Mindset zurück », sagt Gmelin. Doch die Machtverhältnisse bei Swiss Rowing seien inakzeptabel: «Die Kultur basiert auf Angst sowie der krassen Überzeugung, dass nur ein Mensch die absolute Wahrheit kennt und immer alles weiss.» Dieser Mensch heisst: Ian Wright. «Ich finde es nach wie vor erschreckend, dass Trainer und Staff von Athletinnen und Athleten absolute Professionalität und ein enormes Mass an Loyalität verlangen, aber was von der Gegenseite geboten wird, alles andere als professionell ist. Bis hin zur selektiven Anwendung von Prinzipien.»

Nach Gmelins zwischenzeitlichem Abgang bildeten für einige Zeit Frédérique Rol und Patricia Merz das Paradeboot bei den Frauen. Das Duo holte mit dem Leichtgewichts-Zweier ein Diplom an den Olympischen Spielen 2021 in Tokio, schloss sich später aber der Trainingsgruppe um Gmelin und Dowell an. Frédérique Rol erzählt ein typisches Wright-Muster: «Einmal hat er vor versammelter Mannschaft Einzelkritik gemacht. Bei jeder Athletin und jedem Athleten hat er gesagt, was er oder sie schlecht mache. Bei einer Person sagte er nur: Du machst sowieso alles falsch.» Er habe auch oft das Essverhalten kommentiert und Sprüche gemacht, wenn jemand Dessert ass.

Patricia Merz sagt zu ihrem Ende im Nationalen Leistungszentrum: «2024 verpasste ich die Selektion für das Olympiakader. Eigentlich erlebte ich die grösste Enttäuschung meiner Karriere. Aber irgendwie verspürte ich eine grosse Erleichterung.» Über Jahre hinweg suchte sie das Gespräch mit den Verbandsverantwortlichen. «Nach diesen Meetings hatte ich immer wieder das Gefühl, dass ich das Problem sei und ganz einfach nicht wie gewünscht funktionierte. Das zermürbte mich innerlich, und letztlich war ich nur noch müde und ausgebrannt. Mir fehlten die menschliche Wertschätzung und der Umgang auf Augenhöhe.»

Pascale Walker musste heimlich handeln

Pascale Walker sass im letzten Sommer bei den Olympischen Spielen in Paris im Vierer, der nur um Zentimeter Bronze verpasste. Die 29-Jährige ist die älteste Ruderin in Sarnen. Sie sagt, sie habe zwar unter Wright die grössten Erfolg erzielt. «Aber fürs Team und sicher nicht für ihn. Seine Verhaltensweisen zeugten von fehlender Wertschätzung und fehlendem Respekt.»

Walker erzählt, wie sie vor der WM 2023 an einem grossflächigen Ödem an zwei Rippenbögen laborierte: «Ich habe sehr lange mit Schmerzen gerudert. Als ich die Schmerzen erwähnte, wurde ich von ihm als Simulantin abgestempelt.» Im Frühjahr 2024 erlitt sie nochmals ein Rippenödem. Ende Februar 2024 hat der Arzt Pascale Walker fürs Rudertraining dispensiert.

Als sie nach neun Wochen zurückkehrte, sagte Wright: «Wenn du nicht die Beste bist, kannst du Olympia vergessen.» Nach der Selektion verspürte sie zwar Erleichterung, aber keine Freude. In Paris habe sie aufgrund von körperlichen Beschwerden den Osteopathen von Swiss Olympic aufsuchen wollen. Das wurde ihr nicht erlaubt. Walker suchte den Osteopathen schliesslich heimlich auf.

Auch hier zeigt sich ein Muster: Die Zusammenarbeit mit Mentaltrainern und anderen externen Fachleuten sahen die Verantwortlichen in Sarnen nicht gerne. Die Athleten holten sich deshalb heimliche Unterstützung ausserhalb der Verbandsstrukturen. Es herrsche eine Kultur, in der das Verlangen nach psychologischer Hilfe als Schwäche angesehen werde, sagt ein Insider.

Die Verletzung als ein Druckmittel

Eine weitere Ruderin erzählt: «Als ich verletzt war, sagte mir Ian Wright, das sei mein Fehler. Zeitweise fielen bei uns sechs von neun Ruderinnen wegen Rippenverletzungen aus.» Eine weitere Betroffene stellt fest, dass sich mit der Zeit gar niemand mehr getraut habe, etwas zu sagen. Ian Wright sei eine zu starke Autoritätsperson gewesen, als dass man sich gegen ihn hätte auflehnen können.

Der Umgang mit Verletzungen und Krankheiten sei schlecht gewesen, bestätigt Patrick Brunner. Auch er nahm an den Olympischen Spielen in Paris teil. Er äussert sich differenziert: «Es gab einige besonders harte Einzelschicksale, und es spricht nicht für die Verbandsstrukturen, wenn so viele 25-, 26-Jährige nach den Olympischen Spielen ihren Rücktritt geben.» Er selbst habe versucht, Reibereien auf ein äusserstes Minimum zu beschränken, wünscht sich aber, dass man zukünftig viel stärker auf die spezifischen Bedürfnisse der Athleten eingeht. «Ian hat nicht verstanden, dass wir mehr sind als nur Ruderer und auch ein Leben ausserhalb vom Sport haben.»

Es gibt im Nationalen Leistungszentrum Sarnen auch Athletinnen und Athleten, welche Cheftrainer Wright und Verbandsdirektor Stofer sogar wohlwollend beurteilen. Eine Athletin sagt, ihr habe das harte Regime geholfen, neben ihrem Talent und der Bereitschaft, alles für den Sport zu geben, auch die mentale Stärke für den Erfolg zu erlangen. «Ich habe dank Ian gelernt, über mich hinauszuwachsen.» Aber auch sie erlebte, welch negative Folgen das Trainingssystem des Neuseeländers haben kann – in Form eines Rippenbruchs.

Als Konsequenz habe sie bei späteren Erkrankungen entschieden, auf den Körper zu hören und alternativ zu trainieren, «auch wenn mich Ian dann durch Ignorieren bestraft hat». Weil er aber sportlich nichts an ihr auszusetzen gehabt habe, sei diese Phase jeweils schnell vorübergegangen. Der jungen Sportlerin entgingen die Schattenseiten des Trainingsregimes jedoch nicht: «Es sind auch Athletinnen und Athleten daran kaputt gegangen.»

Joel Schürch vermisst den wissenschaftlichen Ansatz

Es sind aber primär Männer, die ein positives Fazit über die Wright-Ära ziehen. Olympia-Teilnehmer Scott Bärlocher: «Man muss mehr machen als andere, um es ganz an die Spitze zu schaffen. Und es braucht Personen, die dich dazu zwingen, dieses Extra zu leisten. Ian ist so eine Person.» Wrights Umgang mit Verletzungen und Krankheiten sei sicher diskutabel gewesen. «Es gab Athleten, die Angst hatten, ihm zu sagen, dass sie krank sind.»

Auch der Luzerner Joel Schürch, ebenfalls Olympionike, will die grundsätzliche Kritik an Wright nicht stehen lassen. «Ian ist extrem von sich überzeugt, er hat ein unglaubliches Selbstbewusstsein. Aber das ist auch seine Stärke. Seine Beharrlichkeit hat sich sportlich ausbezahlt.»

Der 30-Jährige sagt, dass es nicht den einen oder anderen richtigen Weg gebe. «Ian hat es halt auf die harte Tour mit der Brechstange gemacht. Das hat mich sicherlich fürs Leben geformt.» Umgekehrt glaubt Schürch, dass mit einem smarteren Training wohl viele Athleten einen zusätzlichen Olympia-Zyklus von vier Jahren mitmachen würden. Beim ganzen Wohlwollen schwingt also auch hier leise Kritik mit. Schürch, ein angehender Sportwissenschafter, hat realisiert, dass es an den Trainingsmethoden von Wright schon das eine oder andere zu hinterfragen gegeben hätte. «Ich habe im Abschlussgespräch mit Christian Stofer gefordert, man müsse mehr Wissenschaft ins Trainingssystem bringen.»

Direktor Stofer verteidigte das System

Christian Stofer, der Name des Direktors fällt oft. Einig ist man sich: Stofer leistet viel für den Rudersport. Aber, so fasst ein Athlet zusammen, was viele denken: «Christian macht alles, aber nicht unbedingt die wichtigen Sachen.» Viele Athleten haben das Vertrauen in Stofer verloren. Ein Clubtrainer sagt, Stofer sei in Sarnen ein Gott. Sein Arbeitspensum betrage wohl 200 Prozent. «Er gibt die Zügel nie aus der Hand, das ist fast schon ein wenig krankhaft.» Der ehemalige Spitzenruderer Augustin Maillefer sagt: «Die grösste Angst von Christian Stofer war, dass jemand das System stört. Wer kritisierte, redete gegen eine Mauer.»

Der ehemalige Spitzenruderer Christian Stofer ist seit 2008 als Direktor oberster operativer Chef bei Swiss Rowing.
Der ehemalige Spitzenruderer Christian Stofer ist seit 2008 als Direktor oberster operativer Chef bei Swiss Rowing.Bild: Ch Media

Es sind nicht wenige, die dem Verband vorwerfen, er habe seine Fürsorgepflicht gegenüber den ihm anvertrauten Menschen verletzt. Eine Ruderin erinnert sich an eine Aussprache mit Stofer im April 2024: «Er hat aufmerksam zugehört und sich eifrig Notizen gemacht. Er liess uns zwei Wochen hoffen, aber nichts passierte. Null Änderung!»

Tijmen Teunissen ist Physiotherapeut. Bis zu den Olympischen Spielen arbeitete der ehemalige Eliteruderer während zweieinhalb Jahren mit den Ruderern in Sarnen. Der Holländer kritisiert: «Ian Wright hat die Athletinnen und Athleten abhängig von sich gemacht, indem er ihnen Angst gemacht hat. Ian hat die Ruderer mental krank gemacht. Er hat seine Macht missbraucht.»

Er nennt ein Beispiel. Körperfettmessungen würden normalerweise anonym vorgenommen. «Bei ihm wurden sie vor allen bekannt gegeben, und wenn jemand schlecht abgeschnitten hat, gab es Sprüche von ihm.» Auch hätten Athleten Verletzungen verschwiegen, um ihre Selektion nicht zu gefährden. Das Wort alte Schule fällt: So eine Trainer-Athleten-Beziehung wolle man heute nicht mehr, sagt Teunissen. Hier ist er wieder, der mangelnde Respekt. Das Fehlen einer Beziehung auf Augenhöhe.

Psychologe spricht von Manipulation

Teunissen kritisiert auch den Verband. Etwa, dass es keine vertrauliche Stelle gab, an die sich die Athleten hätten wenden können. «Christian Stofer meint es wirklich gut. Aber er hat seine Seele an Wright verkauft.» Mentaltraining, Schlaf, Ernährung – all das spielte keine Rolle.  «Athleten haben keine Ahnung über die Funktionsweise ihres Körpers, über das Thema Ernährung, über Erholungsfaktoren. Sie kennen nur das System Wright.» Peitsche und Brechstange statt wissenschaftliche Trainingsmethoden.

Doktor Mattia Piffaretti ist Sportpsychologe. Er betreut einige Ruderinnen und Ruderer aus dem Leistungszentrum. «Ich habe in diesen Gesprächen viel über die Zustände in Sarnen gehört. Es geht um Situationen mit Druck, aber auch mit Macht.» Auch er bemängelt, dass bei der Trainingsplanung die individuelle Situation der Athleten nicht berücksichtigt werde. Generell mangle es an Erholungszeit: «Zusätzlich wird Druck auf verletzte Athleten ausgeübt. Aus meiner Sicht findet eine psychologische Manipulation statt.»

Er sagt, dieses Vorgehen sei extrem gefährlich. Viele Athleten seien deprimiert. «Letztlich schadet sich Swiss Rowing selbst, denn man zerstört die optimale Leistungsentwicklung der Athleten. Der Verband braucht eine tiefgreifende Änderung der Kultur, der Werte und der Methoden.»

«Ich habe Christian Stofer gesagt, dass es so nicht weitergehen kann», sagt Kurt Struzina, Vater der beiden ehemaligen Kaderathleten Andri und Gian. Andri Struzina war 2023 sogar Weltmeister im Leichtgewichts-Skiff, gab im Jahr danach aber mit nur 26 Jahren den Rücktritt. «In Sarnen trainierte man oftmals über die Grenzen hinaus. Bei meinen beiden Söhnen wurde die Lust am Rudersport kaputt gemacht, das darf ich so sagen.» Er kritisiert die Trainingsphilosophie von Swiss Rowing. «Was das individuelle Training angeht, hinkt man hinterher. Auch der biologische Zyklus wird nicht berücksichtigt. Wenn eine Frau sagt, dass sie heute die Leistung nicht erbringen kann, muss man es auch mal gut sein lassen. Es kann doch nicht sein, dass sie dann ein Arztzeugnis bringen muss, um vom Training dispensiert zu werden.»

Hoffnung dank neuem Coach und neuem Präsident

Seit neustem sehen die Athletinnen und Athleten Morgenrot. Ende Oktober – während unserer Recherche – teilte Swiss Rowing mit, dass Ian Wright den Verband verlässt und neuer Nationaltrainer in China wird. Noch im Sommer hatte er gegenüber Athletinnen und Athleten sein Bleiben verkündet. Dass Zuversicht aufkeimt, hat mit dem neuen Nationaltrainer Alexis Besançon zu tun. Der fünfzigjährige Franzose hat mit der Ansage gepunktet, dass er das Training individualisieren und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten gestalten will.

Doch eine Frage bleibt: Wird man mit Ian Wright auch sein Erbe, seine Denkweise los? Ein Fachmann sagt, besonders schlimm sei gewesen, dass nach dem Olympiasieg in Rio 2016 auch im Nachwuchs die Trainingslehre von Wright übernommen worden sei. Zu einem hohen Preis. Er habe Nachwuchsruderinnen erlebt, die während Monaten keine Menstruation gehabt hätten. Eine ganze Generation von Talenten habe in einer andauernden Überbelastung gelebt. Aber niemand im System sei eingeschritten und habe sich ernsthaft gefragt, wieso so viele Ruderinnen und Ruderer bereits so früh vom Spitzensport zurückgetreten seien.

Die Abkehr vom System Wright soll auch András Gurovits sicherstellen. Seit Januar ist er Verbandspräsident. Für die belasteten Sportlerinnen und Sportler ist der Zürcher ein Hoffnungsträger. Ein erster Austausch hat bereits stattgefunden. Gurovits hat sich angehört, welche Ängste und Sorgen seine sportlichen Aushängeschilder umtreiben. Noch ist das neue Vertrauen in die Führungspersonen ein zartes Pflänzchen. Eine Ruderin beschreibt den aktuellen Prozess wie folgt: «Wir haben jetzt eine Perspektive erhalten, um für unsere Sache zusammenzustehen. Das verleiht uns viel mehr Selbstvertrauen.» Für viele Sportlerinnen und Sportler kommt dieser Wandel aber zu spät. (aargauerzeitung.ch)

Stellungnahme vom 7. März 2025: Das sagt Swiss Rowing zu den Vorwürfen
Swiss Rowing fördert sowohl den Breiten- als auch den Spitzensport. Die Zahl von 13’000 Mitgliedern legt davon ein eindrückliches Zeugnis ab. Für den Spitzensport betreibt der Verband in Sarnen das nationale Leistungszentrum. Die Zentralisierung ermöglicht, dass die besten AthletInnen und Athleten der ganzen Schweiz an gleicher Stätte trainieren können. Zuletzt hat sich das Nationalkader sehr erfolgreich vergrössert. 2024 schafften von 25 Kaderangehörigen nicht weniger als 19 die Selektion für die Olympischen Spiele in Paris. Es resultierten vier Finalteilnahmen, drei Diplome und eine Medaille. Im Jahr davor resultierten je ein Welt- und ein Europameistertitel. Dies macht Rudern zu einer der stärksten Schweizer Sportarten.So viele Boote und AthletInnen und Athleten an die absolute Weltspitze zu bringen, bringt enorme Herausforderungen mit sich. Der Weg ist für alle Beteiligten mit ausserordentlichem Aufwand und einer hohen Intensität verbunden. Auch das Wohlergehen der AthletInnen und Mitarbeitenden muss dabei selbstverständlich eine hohe Priorität geniessen. Nach Abschluss des vergangenen olympischen Zyklus erfolgte eine Auslegeordnung auf allen wichtigen Ebenen. Die Verbandsleitung ist daran, die Verbandsstrategie sowie relevante Prozesse zu überarbeiten und mit dem neuen Headcoach zusammen in der Trainingsarbeit gewisse Weichen neu zu stellen. Ein respekt- und verantwortungsvoller Umgang zwischen allen Beteiligten ist unabdingbar, um jene täglichen Höchstleistungen zu erbringen, die gefordert sind, um an der absoluten Weltspitze mitzuhalten.
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