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Die Schweiz soll der Ukraine bei Luftabwehr-Systemen den Vortritt lassen

Die Schweiz soll der Ukraine bei Luftabwehr-Systemen den Vortritt lassen

Was ist wichtiger: der Ukraine im Kampf gegen Putin indirekt beizustehen oder die eigene Armee rasch aufzurüsten? Bei der Luftabwehr kommt's zum Zielkonflikt – und die Schweiz steckt mittendrin.
19.05.2024, 11:25
Stefan Bühler / ch media
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15.05.2024, Berlin: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) empf
Der Bundeskanzler kam auf die Kriegsmaterial-Frage zu sprechen: Olaf Scholz empfängt Bundespräsidentin Viola Amherd am 15. Mai 2024 in Berlin mit militärischen Ehren.Bild: DPA

Unablässig greift die russische Armee ukrainische Städte mit Drohnen und Raketen an. Der Verteidigungsschirm ist löchrig, die Angriffe fordern in der Zivilbevölkerung viele Opfer. Mit steigender Dringlichkeit fordert Präsident Wolodimir Selenski vom Westen die Lieferung von Luftabwehrsystemen, namentlich vom Typ Patriot, der als sehr effizient gilt.

Bisher haben die USA – nebst anderen Luftabwehrsystemen – erst eine Patriot-Batterie geliefert, Deutschland zwei und eine weitere in Aussicht gestellt. Andere EU-Staaten sind die Weitergabe am Prüfen.

Seit dieser Woche beschäftigt die Frage auch die Schweiz. Anlässlich des Besuchs von Bundespräsidentin Viola Amherd bei Bundeskanzler Olaf Scholz wurde bekannt, dass sich der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius in der Patriot-Frage auch an den Bund gewandt hat.

Das ist zunächst überraschend. Denn die Schweiz besitzt gar keine Patriot-Einheiten – und wenn, wäre es ihr wegen der Neutralität verboten, diese an die Ukraine abzugeben. Berlins Forderungen zielen trotzdem nicht ins Leere. Denn mit dem Ja zu neuen Kampfjets hat die Schweiz auch die Beschaffung von 5 Patriot-Batterien beschlossen. Für 1,970 Milliarden Franken. Diese sollen ab 2026 geliefert werden – wenn es dabei bleibt.

MUNSTER, GERMANY - APRIL 18: A launcher of a Patriot missile system of the Bundeswehr, the German armed forces, stands during the "National Guardian" military exercise at the Bundeswehr&#039 ...
Viel mehr als ein getarnter Lastwagen: Ein Patriot-System der Bundeswehr in Münster, Deutschland. 18. April 2024)Bild: Getty Images Europe

Denn offenbar drängt Deutschland darauf, dass der Bund den Liefertermin verschiebt – zugunsten der Ukraine. Laut der NZZ bestätigte Amherd in Berlin, sie stehe mit Pistorius in Kontakt. Inhaltlich hüllte sie sich in Schweigen: Sie wolle der Diskussion im Bundesrat nicht vorgreifen.

Der Vorschlag, die Beschaffung der Patriot-Batterien zu verschieben, ist brisant. Wie in allen europäischen Staaten stellt sich die Frage, was höher gewichtet wird: Die Stärkung der Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor, von dem ganz Europa profitiert. Oder die Stärkung der eigenen Streitkräfte, für den Fall, dass die Ukraine nicht standhält.

Noch hat der Bundesrat die Patriot-Frage nicht diskutiert. Unter den Sicherheitspolitikerinnen und -politikern sind aber die Meinungen gemacht, wie eine Umfrage zeigt.

SVP-Stratege: Luftabwehr ist wichtiger als neue Panzer

Die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth spricht sich für eine Verschiebung der Beschaffung aus: «Die Ukraine und ihre Unterstützer brauchen jetzt dringend unsere Solidarität.» Für einen Angriff auf die Schweiz gebe es derzeit «zum Glück keine realistischen Szenarien». Zudem wäre sie gar nicht in der Lage, das Patriot-System einzusetzen, sei das doch nur im Verbund mit den Nachbarstaaten sinnvoll möglich.

«Jetzt dringend»: Die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth am 19. April 2024 zum Thema indirekte Hilfe an die Ukraine.
«Jetzt dringend»: Die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth am 19. April 2024 zum Thema indirekte Hilfe an die Ukraine.Bild: Oliver Menge / GT

Gerhard Andrey, Nationalrat der Grünen, hält fest, dass im Gegensatz zur Schweiz die Ukraine diese Verteidigungswaffe «offensichtlich jetzt dringend braucht, und nicht erst in zwei oder mehr Jahren». Deshalb wäre es klug, wenn die Schweiz nicht auf einer raschen Lieferung beharren würde. «Ich halte den Vorschlag für prüfenswert», sagt Andrey.

Etwas zurückhaltender ist der grünliberale Patrick Hässig. Es sei zwar richtig, der Ukraine den Rücken zu stärken. Doch ergebe es wenig Sinn, die Beschaffung der Patriot-Systeme bereits jetzt zu verschieben. «Falls die Ukraine 2026 die Systeme immer noch nötig hätte, könnte die Schweiz dann kurzfristig über einen Verzicht oder Teilverzicht beraten.»

Mitte-Ständerätin Marianne Binder macht neutralitätsrechtliche Bedenken geltend, liefe der Verzicht doch auf einen Ringtausch von Rüstungsmaterial hinaus. «Ausserdem muss die Schweizer Armee möglichst schnell wieder selber verteidigungsfähig werden.» Eine Verschiebung des Patriot-Kaufs findet sie deshalb «sehr heikel». Trotzdem müsse der Ukraine dringend geholfen werden. Die Aargauerin verweist auf den Vorstoss für einen 15-Milliarden-Fonds, mit dem die rasche Aufrüstung der Armee bis 2030 und der Wiederaufbau der Ukraine finanziert werden sollen. Es gehe um die überlebensnotwendige Infrastruktur sowie die Entminung in der Ukraine, sagt Binder. Weil mit dem Fonds die Schuldenbremse ausgehebelt würde, ist der Vorschlag äusserst umstritten, selbst in Binders Mitte-Partei.

Marianne Binder-Keller, Mitte-AG, hoert einem Votum zu, an der Herbstsession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 13. September 2022 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
«Sehr heikel»: Die Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder hegt neutralitätsrechtliche Bedenken (Bundeshaus, 13. September 2022).Bild: keystone

«Wir können nicht zehn Jahre auf unser Luftabwehrsystem verzichten», sagt derweil SVP-Nationalrat Mauro Tuena: «Die rasche Lieferung der Patriot-Systeme ist noch dringender als neue Panzer – wenn wir angegriffen werden, dann zuerst aus der Luft.»

Das sieht auch FDP-Ständerat Josef Dittli so. «Wir verfügen derzeit über keine Mittel zur Abwehr von ballistischen Raketen mittlerer und grösserer Reichweiten - die Beschaffung der Patriot hinauszuzögern, wäre gefährlich und kommt für mich nicht infrage.» Dittli setzt bezüglich militärischer Hilfe für die Ukraine auf eine Lösung der seit zwei Jahren umstrittenen Frage der Weitergabe von Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion durch Drittstaaten. Er sei zuversichtlich, dass man bald eine Einigung erziele.

Die Idee aber, zugunsten der Ukraine die Patriot-Batterien später zu beschaffen, wird es schwer haben.

«Kommt nicht infrage»: Der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli, hier im Bundeshaus, am 5. Dezember 2019, setzt die Prioritäten bei der Schweizer Armee.
«Kommt nicht infrage»: Der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli, hier im Bundeshaus, am 5. Dezember 2019, setzt die Prioritäten bei der Schweizer Armee.Bild: Keystone
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137 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Avanty
19.05.2024 11:46registriert März 2022
Diese kleinkarrierten Politiker, unglaublich. Die Ukraine braucht die Patriot JETZT. Die Schweiz nicht vor 2030 (dann nämlich, wenn der Russe Europa angreift, weil er in der Ukraine mangels Luftverteidigung nicht gestoppt wurde)! Unverständlich, wie blind und kurzsichtig man sein kann. Und das Geblabel um die Neutralität ist auch nur ein faule Ausrede, um nichts tun zu müssen. Die haben den Geist der Schweizer Neutralität noch nicht ganz verstanden.
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Major Tupperware
19.05.2024 12:08registriert November 2019
Ich bin grundsätzlich für eine starke Landesverteidigung. In diesem Fall ist es aber sonnenklar, dass wir zurückstehen und der Ukraine den Vortritt lassen. Die Ukraine zu stärken, ist momentan die einfachste und wirkungsvollste Landesverteidigung.
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Posersalami
19.05.2024 11:59registriert September 2016
Die Schweiz sollte die Lieferung verschieben und der UA die 5 Systeme überlassen. Ob wir die 2026, 28 oder 31 bekommen spielt kaum eine Rolle. In der Ua retten die Systeme Leben!

Aber wir sollten sie nicht gratis geben. Wir können dabei von der EU / D zB Entgegenkommen beim Stromabkommen oder so verlangen.
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