Schweiz
Was ich wirklich denke

Eine Zahnärztin erzählt, was sie am meisten stört in ihrem Beruf

kinderzahnärzin
Patrizia hat schon mehrere Hundert Kinder behandelt.bild: WATSON/imAGO/SHUTTERSTOCK
Was ich wirklich denke

Zahnärztin packt aus: «Am meisten haben mich die Ökofreaks genervt»

27.12.2022, 19:4627.12.2022, 20:08
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Was ist «Was ich wirklich denke»?
Wir gestehen: Bei der Idee für «Was ich wirklich denke» haben wir uns schamlos beim «Guardian»-Blog «What I'm really thinking» bedient. Wir mussten fast, denn die Idee dahinter passt wie die Faust aufs Auge auf unseren alten Claim «news unfucked». Es geht darum, Menschen, Experten, Betroffene anonym zu einem Thema zu Wort kommen zu lassen, ohne dass diese dabei Repressalien befürchten müssen. Roh und ungefiltert. Und wenn du dich selber als Betroffener zu einem bestimmten Thema äussern willst, dann melde dich bitte unter wasichdenke@watson.ch.

Die Namen unserer Gesprächspartner sind frei erfunden.
  • Patrizia ist eine Kinderzahnärztin aus der Deutschschweiz.
  • Sie hat täglich mit mühsamen Kindern und noch mühsameren Eltern zu tun.
  • Wenn sie eine Capri-Sonne oder ein Fanta im Wartezimmer sieht, weiss sie: «Jetzt gibt's eine Wurzelbehandlung.»
  • Patrizia macht ihre Arbeit trotzdem gerne, denn sie möchte den Menschen helfen.

Die Medizin hat mich schon immer interessiert. Aber ich wollte nicht ins Spital. Nicht diese Hektik, nicht diese gedrückte Stimmung und nicht dieser Geruch. Niemals. Deshalb habe mich entschieden, dass ich Zahnärztin werden möchte. Ich mache das jetzt schon ein paar Jahre. Mir gefällt mein Beruf, weil er eine gute Mischung aus handwerklicher Arbeit und Patientenkontakt ist.

Aber genau diese Patientinnen und Patienten treiben mich oft zur Weissglut. Denn die ganze Behandlung steht und fällt damit, wie meine Patienten sich verhalten. Ich habe täglich mit quengelnden und ängstlichen Kindern zu tun, die manchmal auch die gesamte Behandlung verwehren.

Patienten, die es besser wissen

Am Anfang meiner Karriere behandelte ich erwachsene Patienten. Die sind grundsätzlich angenehmer als die Kinder. Denn die wissen, dass sie zwar während der Behandlung leiden, aber am Ende mit gesunden Zähnen die Praxis verlassen.

Aber schon da hatte ich es mit einigen «Spezialisten» zu tun. Am meisten haben mich die Ökofreaks genervt, die auf Biegen und Brechen kein Fluorid verwenden wollten. Für die Unwissenden unter euch: Fluorid ist ein Spurenelement. Es kommt im Körper in Knochen und Zähnen vor und festigt ebendiese. Die meisten herkömmlichen Zahnpasten enthalten Fluoride. So kann der Zahnschmelz gestärkt werden.

Klar, in zu grossen Mengen kann es schädlich sein. Aber es ist wichtig für den Schutz der Zähne. Nur leider raffen das die einen nicht. Diesen Ökofreaks habe ich dann erklärt, dass ich während meiner fünfjährigen Ausbildung zur Zahnärztin gelernt habe, dass dieses Fluorid wirklich wichtig ist. Aber sie wussten es halt immer besser. Na ja, mich stört das nicht, wenn ich die halt jedes Jahr wieder wegen Karies behandeln muss. Treue Patienten sind immer gerne gesehen.

Kinder und ihre Showeinlagen

Bei den Kindern gibt es aber weitaus mehr kleine «Spezialisten». Manchmal bin ich selbst überrascht von ihren Tricks. Ein Junge hat mal eine wunderbare Showeinlage hingelegt: Er hat ganze fünfzehn Minuten einen Hustenanfall vorgetäuscht. Ich wusste natürlich, dass das nur eine Inszenierung ist. Behandeln konnte ich den Hauptdarsteller des Dramas trotzdem nicht.

Weil das mitten in der Coronapandemie war, konnte ich nichts anderes machen, als den Jungen nochmals nach Hause zu schicken, denn er hatte schliesslich fürchterlich starken Husten. Der kleine Schauspieler musste einige Wochen später wieder antraben – dann konnte ich die Behandlung wie geplant durchführen.

Von anderen Kolleginnen und Kollegen habe ich sogar schon gehört, dass Kinder extra erbrochen haben, damit sie nicht behandelt werden können. Die Behandlung wird dann eigentlich immer verschoben. Das Erbrechen ist eine Art Triumph. Das Kind ist der Gewinner, die Zahnärztin die Verliererin.

Wenn die Kinder nicht gerade einen Masterplan ausgeheckt haben und sich in die Opferrolle hieven, dann sind sie ungefiltert und ehrlich. Wie das eine Mädchen, das weinte, als es meine Praxis betrat. Sie schluchzte: «Die Frau möchte mir meine Zähne wegnehmen!» Sie hatte recht. Ich wollte ihr die Zähne ziehen. Aber das sagte ich ihr nicht. Stattdessen habe ich ihr etwas Lachgas gegeben und die zu behandelnde Stelle mit einer Spritze betäubt. Bevor sich nun einige Leute Sorgen machen: Es ist völlig normal, dass die Kinder unter sechs Jahren Lachgas bekommen. Das entspannt ihre aufgeheizten Gemüter.

Der kleinen Angstpatientin habe ich zuerst ein Loch gefüllt und dann klammheimlich noch einen Zahn gezogen. Sie hat das gar nicht so recht mitbekommen. Schmerzen hatte sie auch keine. Sie war nach der Behandlung einfach nur glücklich, dass der Spuk vorbei ist. Für mich ist das immer ein Erfolg, wenn die Kinder während der Behandlung überhaupt keine Schmerzen haben müssen.

Ein anderes Mädchen kam zur Tür rein und schrie: «Nein! Nicht die schon wieder!» Als Zahnärztin bin ich für viele das Monster, das die Leute gerne quält. Aber das stimmt überhaupt nicht. Ich bin Zahnärztin, weil ich den Menschen helfen möchte. Das verstehen die Kinder leider noch nicht.

Mühsame Eltern

Die Kinder sind schlussendlich ein Produkt der Erziehung ihrer Eltern. Die können richtig eklig sein. Manchmal ist deren Verhalten grob fahrlässig: Ein Kind hatte acht Löcher in 20 Milchzähnen. Ganz ehrlich: Das grenzt an Körperverletzung.

Und dann gibt es noch die Eltern, die sagen, ihre Kinder hätten so viele Löcher in den Zähnen, weil das genetisch sei. Die Eltern selbst hätten auch viel Karies gehabt. Dann denke ich mir: «Das Einzige, das genetisch ist, ist wohl eher die Dummheit. Und das Unverständnis dafür, wie wichtig es ist, die Zähne zu putzen.»

Und noch etwas frage ich mich täglich: «Wer putzt seinem Kind die Zähne nicht, bevor man zum Zahnarzt geht?» Das gehört doch zum gesunden Menschenverstand. Würde man meinen. Aber die Praxis zeigt mir, dass es viele Menschen gibt, die das noch nicht geschnallt haben.

Viel Arbeit dank Süssgetränken

Die schlimmsten Momente sind die, in denen ich ein Kind im Wartezimmer sehe, das vor der Behandlung seine Capri-Sonne oder sein Fanta trinkt. Dann weiss ich: «Jetzt gibt's eine Wurzelbehandlung. Und Tränen.»

Bei den Jugendlichen sieht das dann schon wieder anders aus. Die trinken literweise Red Bull und rauchen wie die Bürstenbinder. Denen sage ich dann, dass sie mit 30 ein neues Gebiss benötigen, wenn sie so weitermachen. Aber das ist denen egal. Die verstehen auch nicht, dass Joints rauchen auch rauchen ist. Damit ich sie richtig behandeln kann, muss ich immer sehr spezifisch nachfragen, ob sie auch keine Joints rauchen. Eigentlich noch witzig.

Es gibt aber auch Situationen, die weder witzig noch nervtötend sind. Manchmal tun mir die Familien leid. Ich sehe immer wieder Familien, bei denen das Geld hinten und vorn nicht reicht. Es gibt Kinder, deren Eltern sich keine Zahnspange leisten können. Oft haben diese Kinder eine wirklich schlimme Zahnstellung. Aber die müssen dann damit leben. Das ist unfair, denn weder die Kinder noch die Eltern können etwas für die Zahnstellung.

Schöne Momente gibt es auch: Die Kinder bringen mir immer wieder Zeichnungen in die Praxis. Und manchmal selbst gebackene Naschereien. Sehr zuckerhaltige Gebäcke. Kariesfördernd. Aber der Wille zählt.

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215 Kommentare
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Simplicissimus
27.12.2022 19:57registriert Januar 2015
Wir leisten uns ein teures und gutes Gesundheitssystem. Aber Zähne sind nicht in der Grundversicherung. Klar, die Prämien würden noch teurer. Lieber weniger Schnudderis behandeln, dafür eine jährliche Zahnkontrolle und -Reinigung übernehmen. Das sollten uns gesunde Zähne wert sein.
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Hierundjetzt
27.12.2022 20:01registriert Mai 2015
Fluor das im seit 1950 dem Kochsalz beigemischt ist, ist schädlich. Ok.

Next.

Kinderzeichnungen als Dank find ich jetzt aber wirklich sehr schön! Das macht doch die Arbeit erst richtig angenehm😊
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Hiker
28.12.2022 01:14registriert Januar 2017
Wenn ich die vielen Angriffe und abwertenden Kommentare hier über diese Person lese, frage ich mich ob die SchreiberInnen den Sinn dieser Kolumne überhaupt begriffen haben? Sie sollen anonym erklären können was Sie nervt. Nicht erzählen wie toll Sie alles finden. Sowieso meinen Eltern heutzutage gerade Ihre Kinder seien das kostbarste und beste was der Welt passieren konnte. Überraschung liebe Helikoptereltern, das sind Sie nicht! Oft sind es nur ungezogene Rotzgören denen einfach keinerlei Anstand und Respekt beigebracht wurde. Sorry, aber das ist schlicht die Wahrheit.
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