Schweiz
Wirtschaft

Zahlen-Chaos bei der OECD-Mindeststeuer: Geldsegen oder Nullsummenspiel

OECD Mindeststeuer Mindestbesteuerung Unternehmensbesteueurung Kanton Kantone Geld Noten Schweiz
OECD-Mindeststeuer: Darüber entscheidet die Schweiz am 18. Juni an der Urne. Bild: shutterstock/watson

Zahlen-Chaos bei der OECD-Mindeststeuer – zwei Kantone sollen übermässig abkassieren

Die OECD-Mindeststeuer wird kommen. Doch die Höhe der Mehreinnahmen und wie diese auf die Kantone verteilt werden, ist nicht klar. Nach einer umstrittenen Studie präsentiert jetzt auch der Kanton Aargau eigene Zahlen, während andere keine Schätzung wagen. Das Durcheinander ist perfekt.
19.05.2023, 06:0419.05.2023, 12:57
Mehr «Schweiz»

Es betrifft wenige, doch es geht um viel Geld: die Umsetzung der OECD-Mindeststeuer, worüber das Stimmvolk am 18. Juni entscheiden wird. Der Bund rechnet mit 1 bis 2,5 Milliarden Franken Zusatzeinnahmen pro Jahr durch die neue Besteuerung von Grosskonzernen. Betroffen davon sind jedoch lediglich 1 Prozent aller Firmen in der Schweiz – jene, die international tätig sind und einen Jahresumsatz von über 750 Millionen Franken haben.

Die aktuelle Besteuerung von Grossfirmen sei «nicht mehr zeitgemäss», finden die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Daraufhin haben sich 140 Staaten, darunter auch die Schweiz, entschieden, dass grosse Unternehmensgruppen mindestens 15 Prozent an Steuern auf ihren Gewinn bezahlen sollen. Gerade hierzulande werden Firmen oft deutlich tiefer besteuert.

Unternehmen bezahlen immer weniger

In den letzten 20 Jahren nahm die Unternehmensbesteuerung landesweit stetig ab. Während im Jahr 2007 schweizweit durchschnittlich rund 20,8 Prozent an Gewinnsteuern bei Unternehmen erhoben wurde, liegt der Wert 2022 laut der Wirtschaftsprüfer von KPMG nur noch bei 14,7 Prozent.

Die Schweiz folgte damit einem Trend, der weltweit herrscht, Unternehmen immer tiefer zu besteuern. Auch in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien nimmt die Besteuerung ab, jedoch moderater als hierzulande. Mehr Steuervorteile als in der Schweiz haben Unternehmen noch in Irland, das sich damit einen Standortvorteil erhofft.

Verglichen nach Kontinenten kommt die Forderung der OECD-Mindeststeuer, internationale Unternehmen mit 15 Prozent zu besteuern, anders daher. In wirtschaftsschwächeren Regionen wie in Ländern in Afrika oder Lateinamerika nimmt die Unternehmensbesteuerung zwar ebenfalls ab, doch sie ist immer noch deutlich höher als in Europa.

Es fand sich jedoch keine Mehrheit in der weltweiten Gemeinschaft für das ursprüngliche Ziel der OECD, die Mindeststeuer für Grosskonzerne bei über 20 Prozent anzusetzen. Der Kompromiss, der gefunden wurde, liegt nun bei 15 Prozent.

Auch in der Schweiz sieht man die Notwendigkeit der OECD-Mindeststeuer, die am 18. Juni vors Volk kommt. Doch der aktuelle Vorschlag, wohin die zu erwartenden Zusatzeinnahmen fliessen sollen, hat für ein Zerwürfnis der Einstimmigkeit gesorgt. Dass Kantone 75 Prozent der Einnahmen erhalten würden und der Bund 25 Prozent, sorgt für Kritik.

Wie die Kantone profitieren würden

Bereits vergangenen Sommer sorgte eine Studie der Beratungsfirma BSS im Auftrag der SP Schweiz für Aufsehen. Diese zeigte auf, dass ein «Grossteil der Einnahmen aus der Ergänzungssteuer an wenige Kantone» gehen würden. Die SP hat deshalb die Nein-Parole zur OECD-Vorlage beschlossen, da die Partei eine «faire» Verteilung wollte.

Die Befürworter der Vorlage betonten jedoch die noch nicht berücksichtigte Wirkung des nationalen Finanzausgleichs. Dieser würde die Ungleichheit zwischen den Kantonen wieder korrigieren.

Berechnungen der WOZ widersprechen dem allerdings. Laut der «Wochenzeitung» wird der Kanton Zug durch die Ergänzungssteuer rund 242 Millionen Franken erhalten. Davon werden lediglich 31 Millionen Franken in den Finanzausgleich fliessen. Ähnlich ist es beim Kanton Basel-Stadt, der 272 Millionen Franken erhält und davon nur 8 Millionen abgeben muss.

Hinzu kommt laut der Zeitung, dass der Finanzausgleich erst nach sechs Jahren wirken könnte und bis dahin die finanzschwächsten Kantone gar nichts erhalten würden. Die begünstigten Kantone würden bis dann die Möglichkeit haben, den interkantonalen Steuerwettbewerb noch mehr zu verstärken. So plane Basel-Stadt bereits Subventionen für die Pharma-Branche.

Nach den Berechnungen wäre für Kantone mit wenigen internationalen Unternehmen eine andere Umverteilung zugunsten des Bundes besser. Doch mit den Zahlen der BSS-Studie und den WOZ-Berechnungen gibt es ein Problem: Der Bund will sie nicht kommentieren.

Finanzdepartement hat keine eigenen Zahlen

Auf Anfrage von watson schreibt eine Sprecherin des Finanzdepartements (EFD): «Wir können diese Zahlen weder bestätigen noch falsifizieren.» Eine treffsichere Analyse sei nicht möglich aus verschiedenen Gründen. Zum einen sei die genaue Verteilung der Unternehmensgruppen über die Kantone nicht bekannt. Zum anderen seien die Unterschiede auch branchenabhängig. «Aussagen für einen Kanton mit starkem Gewicht auf dem Industriesektor sind nicht notwendigerweise übertragbar auf einen Kanton, in welchem Finanzdienstleistungen dominieren», schreibt das EFD.

«Das Finanzdepartement teilt das Bedürfnis nach konkreten Schätzungen.»

Eigene Zahlen, auf welche die Bevölkerung am 18. Juni ihre Entscheidung stützen könnte, will oder kann Bundesbern nicht liefern. «Es gilt festzuhalten, dass das EFD das Bedürfnis nach konkreten Schätzungen teilt. Diese müssen jedoch eine gewisse Verlässlichkeit aufweisen», schreibt die Sprecherin. Das sei aktuell aufgrund «diverser Unsicherheiten und mangelnder Datenlage» aber nicht möglich. Das Finanzdepartement betont hingegen einen anderen Umstand.

Die OECD-Mindeststeuer wird nämlich zunächst durch eine Ergänzungssteuer, zusätzlich zu den bereits erhobenen, tieferen Steuersätzen, durchgesetzt. «Sechs Jahre nach einer Einführung der Mindestbesteuerung hat der Bundesrat dem Parlament das endgültige Gesetz vorzulegen», erklärt die Sprecherin des EFD. «Die Verteilung der Einnahmen kann zu diesem Zeitpunkt bei Bedarf erneut diskutiert werden.» Das EFD rechnet damit, dass bis dann die «Einnahmen bekannt» sein dürften.

Einige Kantone rechnen selber ...

Der BSS-Studie und den WOZ-Berechnungen widerspricht ebenfalls der Aargauer Regierungsrat und Finanzdirektor Markus Dieth. Gegenüber der «Aargauer Zeitung» präsentiert Dieth «hauseigene Berechnungen», die zehnmal tiefer ausfallen. Er sagt: «Wir erwarten jährliche Mehreinnahmen von lediglich 20 Millionen Franken. Dank des Finanzausgleichs dürfte diese Zahl auf 54,2 Millionen wachsen.» Dass die Zahlen so unterschiedlich sind im Vergleich zur BSS, erklärt sich der Kanton Aargau wie folgt: «Die massgebende OECD-Bemessungsgrundlage weicht deutlich von der schweizerischen Bemessungsgrundlage ab. Dies ist im BSS-Modell nicht berücksichtigt worden.» Gerade dieser Effekt könne aber zu grossen Veränderungen bei der Höhe des effektiven Steuersatzes führen und würde damit auch wesentlich die Höhe der resultierenden Ergänzungssteuern beeinflussen.

Markus Dieth, CVP Aargau
«Lediglich 20 Millionen Franken»: Aargauer Finanzdirektor Markus Dieth. Bild: AZ

Doch wie kommt der Aargauer Finanzdirektor dazu, eigene Zahlen zu präsentieren, wenn das EFD nicht in der Lage war, dies für alle Kantone zu machen? «Auch unsere Berechnungen zu den finanziellen Auswirkungen basieren auf Annahmen. Aufgrund der grossen Unsicherheiten handelt es sich um grobe Schätzungen für den Kanton», schreibt eine Sprecherin des Finanzdepartements. Die konkrete Ausgestaltung sowie Anwendung der Mindestbesteuerungsregeln seien noch nicht klar definiert.

«Wir schätzen für Zug Mehreinnahmen zwischen 200 und 400 Millionen Franken.»
Heinz Tännler, Finanzdirektor Zug

Ebenfalls Schätzungen hat man beim Kanton Zug. Finanzdirektor Heinz Tännler sagt am Telefon zu watson: «Wir schätzen grob, dass es für Zug zu Mehreinnahmen zwischen 200 und 400 Millionen Franken durch das OECD-Gesetz kommen könnte. Die BSS-Studie schätzt das ähnlich. Doch verlässlich kann man die Auswirkungen zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht berechnen.» Dafür sei noch zu vieles unklar, sagt Tännler.

... während andere keine Schätzung wagen

Wie das Aargau auf diese Berechnung kam, kann man beim Finanzdepartement in Zürich nicht verstehen. «Schätzungen zu den Auswirkungen der Mindeststeuer sind höchst unsicher. Noch sind nicht alle Umsetzungskriterien bekannt. Ebenso ist unklar, wie die Unternehmen auf die Reform reagieren», schreibt ein Sprecher der Zürcher Finanzdirektion.

«Wir rechnen per Saldo nicht mit wesentlichen Mehreinnahmen.»
Finanzdepartement Basel-Stadt

Noch deutlicher äussert sich das Finanzdepartement Basel-Stadt auf Anfrage: «Wir rechnen per Saldo nicht mit wesentlichen Mehreinnahmen.» Verlässliche Schätzungen seien zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. «Deshalb nennen wir keine konkreten Zahlen», schreibt ein Sprecher des Finanzdepartements Basel-Stadt.

Roche lässt Tamiflu in USA künftig von Sanofi vertreiben (Archivbild)
Erwartet keine wesentlichen Mehreinnahmen durch die OECD-Vorlage: Kanton Basel-Stadt. Bild: KEYSTONE

Gleich tönt es beim Kanton Nidwalden, der laut BSS zu den Profiteuren der Vorlage gehören würde. Finanzdirektorin Michèle Blöchliger sagt auf Anfrage von watson: «Wir können aufgrund verschiedener unbekannter Daten keine fundierte Schätzung abgeben, inwiefern der Kanton von der OECD-Mindeststeuer profitiert. Deshalb wäre es nicht richtig, Zahlen zu kommunizieren, von denen man nicht weiss, ob sie zutreffen.»

Ökonom rechnet mit Nullsummenspiel

Über das Zahlenwirrwarr hat watson mit Ökonom Kurt Schmidheiny gesprochen, Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. «Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) rechnet mit kurzfristigen Mehreinnahmen von 1 bis 2,5 Milliarden Franken durch die OECD-Ergänzungssteuer. Dafür hat sie die Steuerdaten von allen Schweizer Firmen angeschaut und musste beurteilen, ob und wie stark diese vom OECD-Gesetz betroffen sind oder nicht.» Doch da in den Steuerdaten wichtige Informationen zu den Firmen fehlen würden – wie der globale Umsatz –, habe die ESTV viele Annahmen treffen müssen. «Wegen der fehlenden Daten ist die Abschätzung zwangsläufig ungenau», erklärt der Ökonom. Wie die BSS diese Zahlen auf die Kantone runtergebrochen habe, empfindet er als realistisch.

«Manche Kantone können froh sein, wenn die Reform ein Nullsummenspiel wird.»
Kurt Schmidheiny, Professor Universität Basel

Doch Schmidheiny sieht ein grösseres Problem. «Ein wichtiges Thema fehlt in der OECD-Debatte komplett», sagt er. Und zwar die Wirkung der OECD-Mindeststeuer auf das Verhalten der Firmen in der Schweiz. «Die von der Mindeststeuer betroffenen Firmen werden in der Schweiz deutlich mehr Steuern zahlen müssen. Die Schweiz wird damit als Standort für diese Firmen weniger attraktiv. Diese grossen multinationalen Konzerne werden deshalb nicht gleich aus der Schweiz wegziehen. Aber sie könnten grössere Teile ihres Gewinns im Ausland versteuern als bisher. Langfristig könnten sich auch weniger solche Unternehmen für die Schweiz als Standort entscheiden», sagt Schmidheiny.

Aus diesem Grund könne er verstehen, wenn der Kanton Basel-Stadt «nicht mit wesentlichen Mehreinnahmen» durch die OECD-Vorlage rechne. «Wenn wegen der Steuererhöhung die Gewinne wegbrechen, können manche Kantone schon froh sein, wenn die Reform ein Nullsummenspiel wird», sagt er. Längerfristig sei es sogar möglich, dass durch die OECD-Mindeststeuer «einige Kantone ein Minus machen würden». Es sei deshalb aus seiner Sicht verständlich, dass die Kantone versuchen würden, den Standortnachteil durch die OECD-Mindeststeuer von 15 Prozent zu kompensieren.

Wie stimmst du zur OECD-Mindeststeuer ab?

«Leider hat die ESTV keine Abschätzungen zu den möglichen Verhaltensanpassungen gemacht – weshalb nun auch niemand darüber redet», sagt der Ökonom. Diese Abschätzungen wären zwar mit noch mehr Unsicherheiten behaftet gewesen als die publizierten Zahlen. «Die zu erwartenden Mehreinnahmen wären unter Berücksichtigung der Verhaltenseffekte aber in jedem Fall tiefer als die 1 bis 2,5 Milliarden Franken», ist Kurt Schmidheiny überzeugt.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das Ausfüllen der Steuererklärung in leider-ehrlichen Memes
1 / 20
Das Ausfüllen der Steuererklärung in leider-ehrlichen Memes
quelle: watson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
145 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
N. Y. P.
19.05.2023 06:19registriert August 2018
«Wir rechnen per Saldo nicht mit wesentlichen Mehreinnahmen.»
Finanzdepartement Basel-Stadt

Heisst: Wir versuchen den ursprünglichen Zweck der OECD - Mindeststeuer zu hintertreiben, indem wir auf eine "indirekte Art" die Einnahmen wieder zurück an die Firmen fliessen lassen.
17433
Melden
Zum Kommentar
avatar
Weltbürger
19.05.2023 07:10registriert März 2019
Das geld welches durch die steuer eingenommen wird soll vollumfänglich dem bund zugute kommen. So wird verhindert, dass sich die kantone einem standortförderungskrieg aussetzen müssen, welcher einfach dasselbe system in gang setzen würde wie heute die unternehmenssteuer direkt. Die kohke könnte man dann sinnvoll z.B. für bildung soziales und infrastruktur nutzen
15932
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bär51
19.05.2023 06:56registriert Juni 2019
Mit anderen Worten: man weiss es nicht, und es ist eine Lotterie, bei der zwei Kantone die grosse Chance auf den Hauptgewinn haben.
Und gerade weil man nichts weiss, sollten die neuen Steuereinnahmen vorerst mal hauptsächlich der Bund erhalten!
11023
Melden
Zum Kommentar
145
Die Espresso-Königin über steigende Preise und den Schweizer Café Crème
Cristina Scocchia, Geschäftsführerin der italienischen Kaffeefirma Illy aus Triest, verrät, wie sie in der Schweiz zulegen will, wie es sich in einer Familienfirma arbeitet - und erklärt ihren Migros-Deal.

Sie ist eine von weniger als 4 Prozent weiblicher CEOs in Italien: Cristina Scocchia leitet seit 2022 die Traditionsfirma Illy, bekannt für den gemahlenen Kaffee in silbernen Dosen mit rotem Logo. Die Spezialität: der Espresso. Im Telefoninterview spricht die 50-Jährige über ihre Vision für die Zukunft des Familienunternehmens mit Sitz in Triest, die Rolle von Starbucks und Nespresso für die Branche und ihre eigene Kaffeevorliebe, mit der sie überrascht.

Zur Story