Würde man Sie bitten, eine diplomatische Lösung mit Putin zu finden: Wie würden Sie vorgehen?
Tim Guldimann: Das hängt davon ab, ob Moskau überhaupt eine Verständigung will. Das deklarierte Kriegsziel - die vollständige Kapitulation der Ukraine - lässt eine solche Verständigung nicht zu. Und zum anderen, dass eine Verständigung nur auf der Basis des Völkerrechts - also der anerkannten Souveränität der Ukraine - möglich ist.
Angesichts der Kreml-Forderungen bringen Gespräche nichts?
Es besteht momentan kein Raum für ernsthafte diplomatische Gespräche.
Putin dürstet nach Anerkennung des Westens. Macht er die Ukraine dem Erdboden gleich, wird er sie auf immer verlieren.
Das hat er schon jetzt. Bis vor seinem Angriff konnte man vermuten, dass er rational seine Interessen verfolgt. Mit dem Angriff hat er diese Vermutung widerlegt. Irrationale Diktatoren sind die gefährlichsten, besonders wenn ihre Verbrechen nicht rasch zum Ziel führen, dann bleibt ihnen wahrscheinlich nur die Eskalation.
Das klingt hoffnungslos.
Die Situation, wie sie sich für Putin entwickelt, ist fatal. Der Krieg ist schon heute ein militärisches Debakel, es gibt hohe russische Verluste. Dazu kommen die Sanktionen. Und auch die Frage, was mit einer russischen Gesellschaft geschieht, die abgeschottet ist. Da werden sich viele denken: Hier stimmt doch etwas nicht. Und noch etwas läuft nicht für Putin.
Was?
Putins Ziel war schon lange die Spaltung des Westens. Nun ist die Nato gestärkt, die EU unter sich solidarischer. Sehr wahrscheinlich läuft es auf eine längere Konfrontation hinaus: Hier Russland, da der Westen und die 141 Staaten, die sich gegen die russische Aggression ausgesprochen haben. Putin bleibt Belarus, Nordkorea, Eritrea, Syrien, Nicaragua und Venezuela – ein nicht sehr prestigeträchtiger Schurkenclub.
Und China?
China ist das grosse Fragezeichen, die Haltung Beijings könnte entscheidend werden. Zum einen gefährdet der Krieg auch chinesische Wirtschaftsinteressen und stärkt die transatlantische Allianz gegen autoritäre Regime. Zum andern liegt die wachsende Abhängigkeit Russlands von China aber im chinesischen Interesse. Dass der Krieg Putin in die Arme Chinas treibt, wird von den russischen Eliten geschweige denn von der russischen Gesellschaft kaum begrüsst.
Sie waren 2014 bei Putin. Welchen Eindruck machte er auf Sie?
Putin ist ein Geheimdienstler. Was interessant war in seinen Äusserungen war seine Besessenheit in der Frage der Nato-Osterweiterung, nach dem Status der Ukraine. Was spürbar war: Er fühlte sich vom Westen gedemütigt. Er hat den Niedergang der Sowjetunion nie verwunden.
Die Schweiz trägt die EU-Sanktionen voll mit. Hat sie sich als Vermittlerin aus dem Spiel genommen?
Hört doch endlich auf mit der Frage, wer der grosse Friedensvermittler ist. Sie ist irrelevant im Moment. Wer sich heute diese Frage stellt, schafft die Illusion einer Verständigung mit Moskau, die heute im Licht der erklärten Kriegszielen Moskaus nicht möglich ist. Putin erklärt, er sei zu «Friedensgesprächen» bereit, mit der einzigen Bedingung der bedingungslosen Kapitulation der Ukraine.
Was also bleibt?
Man kann humanitär helfen und Waffen liefern. Ob Putin den Krieg gewinnt, ist unklar, den Frieden sicher nicht. Die Sowjetunion ist unter anderem am Krieg in Afghanistan zugrunde gegangen. Wenn die vielen gefallenen russischen Soldaten in Russland zum Thema werden - und das werden sie - dann könnte sich die Geschichte vielleicht wiederholen.
Putins Krieg hat den Westen gestärkt. Auch die EU hat plötzlich «Sex-Appeal». Sollte die Schweiz nun doch diesem «Club» beitreten?
Das steht heute nicht zur Diskussion. Wichtig ist jetzt, sehr aktiv und in enger Kommunikation mit der EU gemeinsam und solidarisch zu agieren - Sanktionen mittragen, bei der Aufnahme von Flüchtlingen helfen. Die Schweiz muss sich auch auf die Folgen dieses Krieges für unsere Energieversorgung vorbereiten.
Wie?
Wenn die Energien in der EU knapp werden und Russland kein Gas mehr liefert, könnte die Schweiz ohne ein Stromabkommen mit der EU in die Röhre gucken. Die Schweiz muss sich generell Gedanken darüber machen, wie sie sich auf einer radikal veränderten politischen Landkarte in Europa neu verortet. Wir stehen vor einer grundsätzlichen Debatte über unsere europäische Identität. Wir sollten nicht daraufsetzen, in einem Europa in vielleicht eskalierender Konfrontation mit Russland wieder ungeschoren davonzukommen.
Also näher an die EU rücken und die Neutralitätsfrage neu definieren?
Ja, aber sie tut es nicht. Neutralität heisst im Kern, nicht Mitglied der Nato zu sein. Das ist wichtig in Moskau, nicht so sehr anderswo. Ob das in diesem Konflikt einmal nützlich wird, ist fraglich, nicht ausgeschlossen. Aber uns deshalb jetzt von der westlichen Solidarität abzumelden, widerspricht unseren Interessen. Heute haben wir grösstes Interesse daran, eng mit der EU zu stehen und uns solidarisch zu überlegen, wie wir uns in diesem Konflikt einbringen können. Wenn wir dazu bereit sind, können wir auch die Frage nach der Zukunft der Bilateralen oder Energiefragen mit Brüssel aufnehmen. Die Schweiz ist für die Sanktionen sehr wichtig. Wir haben was zu sagen. Wir müssen uns aktiv einbringen.