Das Einzige, was in dieser Küche gekauft ist, ist die Flasche Wein. Ausgerechnet. Ist es doch sonst immer andersrum: alles gekauft, und die Flasche bekommt man zum Geburtstag geschenkt. Bei Edwin Moser, 51 Jahre alt, Vater von zwei kleinen Kindern, ist einiges anders. All das, was ich an diesem Tag im November am Idaplatz in Zürich mit erblicke, hat so gut wie nichts gekostet. Die Möbel waren mal Requisiten des Schweizer Films «Blue My Mind». Kleider, Schuhe, Teller, Spielsachen: von Freunden. Auf der Strasse gefunden. Günstig ersteigert.
Edwin trägt neue Schuhe. Von einem Freund. Dem sie irgendwie zu klein waren. Und die Girlanden und die Partydeko, für die Feier des ersten Geburtstags der kleinsten Tochter kommen nachher wieder in die Schublade. Fürs nächste Mal. In der 2.5-Zimmer-Wohnung leben nun vier Menschen, die Küche immerhin so gross wie ein Wohnzimmer.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Familie kaum von den Akademikerfamilien am Zürichberg, nur die Wohnungen dort sind viel grösser – und statt mit dem SUV fährt man das Kind eben mit Lastenvelo durch die Stadt.
Vor ein paar Jahren noch war Edwin selbst im Finanzsektor tätig, Private Banking, angestellt bei der UBS, ein Leben zwischen Steueroptimierungsberatung und argentinischem Rindsfilet. «Ich sass da mit meinen Kollegen, und wir sprachen nur über Geld, über unsere neuen Uhren, über den letzten Urlaub auf Bali», sagt Edwin. Obwohl ihm damals schon nicht wohl war bei diesen Themen und Geld ihn nie interessiert hat. Eher die grossen Zusammenhänge und die Frage, wie die Finanzwelt funktioniert. Wie es sein kann, dass alles, was in der Welt passiert, sich sofort an der Börse zeigt. Und er hatte eine familiäre Prägung, stammt aus einer gutbürgerlichen Familie, Baden-Württemberg, Schwäbische Alb, die Eltern Nachkriegsgeneration, Kleinunternehmer im Handwerksbetrieb, Wohlstand durch Fleiss.
Die Eltern sehen es damals gerne, dass der Sohn 180'000 Franken Jahresgehalt erhält, 40'000 Franken davon Boni, und einen Firmenwagen. Für seine Eltern bedeutet Geld Sicherheit. Doch Edwin hegt immer grössere Zweifel. Beginnt, sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen. Und hat irgendwann die Einsicht:
Nach einer Weltreise 2009 kann er nicht mehr zurück, die Bank hat Einstellungsstopp und Edwin Skrupel, also reisst er alles ab. Die Beziehung geht in die Brüche, er jobbt als Lehrer, macht Schulbesuche für Greenpeace, arbeitet in der Marktforschung. Schlecht bezahlte Arbeit, und doch fühlt er sich frei. Er zieht wieder in eine WG und schraubt seine Fixkosten herunter, fährt nur noch Velo, ernährt sich vegan.
«Am Anfang dachte ich, in der Schweiz kann man mit wenig Geld nicht überleben», sagt Edwin heute, «doch das stimmt nicht. Wir ernähren uns als Familie zu 90 Prozent von geretteten Lebensmitteln, auch vieles andere bekommen wir umsonst, es wird so viel weggeworfen.»
Transportkosten fallen weg, weil der Grossteil mit dem Velo gemacht wird, für die wenigen anderen Fälle hat die Familie ein Mobility-Abonnement. Ab und an trinkt Edwin ein Bier in einer Bar, «doch eigentlich gefällt es mir sowieso viel besser, bei Freunden zu Hause zu kochen», das Rumsitzen und Ausgehen finde er langweilig, «lieber unternehme ich was».
Klar, die Familie muss immer noch Miete zahlen, die Handyrechnung, die Krankenkasse. Die Altersvorsorge? Nicht so rosig wie einst. Im Moment plagt die Familie keinerlei Sorgen, «doch wenn die Kinder grösser werden, muss ich wohl meinen Anteil bezahlter Arbeit erhöhen», sagt Edwin.
Seine Frau arbeitet 40 Prozent für einen Sabbatical-Anbieter. Er selber ist aktuell zu 40 Prozent Co-Leiter des Filmfestivals «Films For Future», das heute startet. Weitere 20 Prozent der Zeit geht für Freiwilligenarbeit drauf, Demonstrationen mitorganisieren, auf dem neusten Klima-Informationsstand sein, Menschen aus der Community vernetzen. 10 Prozent investiert er ins Retten von Lebensmitteln, daneben bleiben noch 30 Prozent Zeit als Vater und Hausmann. Er steht jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, macht Frühstück, dann wird das grössere Kind mit dem Velo in den Waldkindergarten gefahren, eine halbe Stunde Weg, bei jedem Wetter.
Edwin gibt zu, dass sein Lebensstil auch verbrannte Erde hinterlassen kann, dass sich die Menschen um ihn herum darauf einstellen müssen, mitziehen, oder: Geduld haben. Die Organisation des Lebens nach nachhaltigen Werten frisst viel Zeit. Es ist wohl das moderne Dilemma: Will man nichts verschwenden, kostet das Zeit. Kommt der Effizienz in die Quere. Mosers Lebensmodell läuft entgegen aller kapitalistischen Logik.
Er nimmt das in Kauf. Schliesslich stehe das Aussterben der Menschheit auf dem Spiel.
Kritiker murmeln derweil: Schön und gut, so eine minimalistische Lebensweise, doch das würde ja nicht aufgehen, wären wir alle so. Edwin ist überzeugt: Wollen wir eine nachhaltige Zukunft, werden wir eine neue Wirtschaftsordnung brauchen. «Diese Idee, dass wir alles zu Tode konsumieren können, sofort, viel zu viel, die ist vorbei. Wir werden uns auf Verzicht einstellen müssen.» Was dann noch zähle: Gemeinschaftssinn, Flexibilität. Und, dass man weiss, wie man mit wenig gut auskommt.
Früher ging Edwin Moser noch containern, er fischte nachts für den Grosshandel nicht mehr verkaufbare Lebensmittel aus der Tonne, jetzt läuft alles gesitteter, legal und digital organisiert ab: Ein- bis dreimal in der Woche geht er Lebensmittel abholen, bei Aldi, Coop, bei Bauern direkt, 5 Kilo Bananen, Brot, Fenchel, dann schreibt er per Whatsappchat seine Nachbarn an, wer was haben will, und verteilt auch an sie. Früher habe er Grosses bewirken wollen, die Welt verändern. «Heute reicht es mir, wenn ich in meinem eigenen Wirkungskreis schaue, dass es allen gut geht.»
(aargauerzeitung.ch)
Ist nichts für mich und wohl auch nicht für eine Mehrheit der Personen in der Schweiz
Ich mag es, dass er nicht missionarisch Auftritt. Er weiss, dass er die Ausnahme darstellt.
Und wer ein paar Jahre 180k verdient hat, kann sich solche Spässe natürlich auch erlauben. Ottonormalbürger sieht das vermutlich anders.
Weil im Fall der Fälle, hat er Reserven. Deshalb kann er sich dabei auch so gut fühlen. Wer von Anfang an sehr wenig hat, also so leben muss und nicht will, findet eventuell nicht so toll.
Aber danke an ihn, dass er tut was er kann.
Manchmal ist weniger mehr.
Wenn er und seine Frau mit insgesamt 80 Stellenprozent den Lebensunterhalt für die 4-köpfige Familie sichern können, dann kann man sich diese Zeit nehmen, ja.
Ein grosser Teil der Arbeitnehmer verdient aber bei weitem nicht genug, dass man mit bloss 80 Stellenprozent problemlos den Familienunterhalt bestreiten kann. Auch wenn man versucht, sparsam zu sein. Und schon gar nicht, wenn man etwas zurücklegen möchte fürs Alter oder Wohneigentum oder um den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen.