Sie schlafen bei Bahnhöfen, breiten ihre paar Habseligkeiten unter einer Brücke aus und wärmen sich, so gut es geht, vor Ladeneingängen: Gassenarbeiter von Genf bis Zürich sagen alle, es gebe immer mehr Obdachlose in den Schweizer Strassen. Belegen lässt sich das nicht. Die Obdachlosigkeit ist ein statistisches Niemandsland. Keiner weiss, welche Schicksale sich hinter den Personen ohne Wohnung verbergen, wie sie genau leben und wie viele es hierzulande gibt.
Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz liefert nun erste Anhaltspunkte. Die Wissenschaftler rund um Matthias Drilling, Professor für Sozialplanung und Stadtentwicklung an der Hochschule, haben die Lage in Basel-Stadt unter die Lupe genommen. Herausgekommen sind Zahlen und Hintergründe, die auch für die Obdachlosigkeit in anderen Schweizer Städten Hinweise liefern.
Hier ein Auszug der wichtigsten Erkenntnisse:
Oft wird gesagt, dass in der Schweiz niemand auf der Strasse schlafen muss, der es nicht will. Die Betroffenen seien lediglich beschämt, Sozialhilfe zu beantragen. «Falsch», sagt Drilling: «Niemand verbringt seine Nächte auf freiwilliger Basis draussen.»
Für manche reiche das Geld vom Sozialamt nicht für eine Wohnung, andere würden keine finden, weil sie Schulden haben. Manche müssten, um ihrem Job nachzugehen, in der Notunterkunft eines Kantons schlafen, in dem sie nicht gemeldet sind. «Dort kommen sie dann nicht rein, weil das für sie 40 Franken kostet und sie es sich nicht leisten können.»
Menschen, die illegal in der Schweiz sind, würden auf der Strasse bleiben, weil sie in der Notschlafstelle registriert werden. Drilling: «Dann wird ihre Ausreise in die Wege geleitet.»
Das Paradoxe: Genug Betten gäbe es in den Notstellen eigentlich für alle, so Drilling. «In der Schweiz haben wir kein Mengenproblem, sondern ein Zugangsproblem.»
Die Scham spiele aber schon auch eine Rolle, räumt Drilling ein. Drilling: «Gewisse Obdachlose versuchen es zu kaschieren und holen sich möglicherweise nicht die ihnen zustehende Hilfe.» Sie kämen dann oft bei Bekannten unter. Auch deshalb sei die Obdachlosigkeit in der Schweiz für die Gesellschaft oft unsichtbar.
Manchen in der Studie befragten Personen geht es so. Sie haben zwar ihr Zuhause verloren, können aber auf dem Sofa von Freunden schlafen. Andere wohnen im Campingwagen oder im Zelt.
Innerhalb der Studie wurden auch Menschen in prekären Wohnsituationen interviewt. Bei ihnen läuft auch im kältesten Winter die Heizung nicht, oder die Luft in der Wohnung ist extrem feucht und die Wände voller Schimmel.
Drilling und sein Team liefern gleich mehrere Lösungsansätze: Bedingungslose Notschlafstellen sind das eine. «Egal ob jemand die Staatsbürgerschaft hat oder im Kanton registriert ist – alle sollten Zutritt erhalten», sagt Drilling.
Eine weitere Idee: Tiny Houses. «Halb Europa gefällt derzeit der Gedanke vom genügsamen Leben in diesen kleinen Häusern – und sie könnten auch eine kurzzeitige Lösung für Obdachlose sein.» Mehrere Schweizer Städte hätten bereits Interesse angemeldet. «Irgendein Dach über dem Kopf als temporäre Lösung ist besser als gar keins.»
Dass die Obdachlosigkeit in der Schweiz zunimmt, vermutet auch Drilling. Die Gründe sind vielfältig, unter anderem spielten die «aus dem Ruder laufenden Mietpreise» in Genf, Zürich und Basel eine Rolle. In Genf und Basel auch die Nähe zur Grenze.
Eine europäische Forschergruppe, der auch Jörg Dittmann angehört, ist nun dabei die Zahl der Obdachlosen in ganz Europa zu erfassen. Denn auch international vergleichbare Zahlen fehlen. «Es gibt in der Schweiz und ganz Europa nicht genug Menschen, die sich für die Obdachlosen einsetzen. Nicht genug ‹Lobbyismus›, könnte man sagen.» Ausserdem scheitere eine nationale Erhebung am Föderalismus: Der Bund kann keine solche Zählung in Auftrag geben. Die einzelnen Städte müssen selbst tätig werden.
Die meisten Personen rutschen nach mehreren Betreibungen in die Obdachlosigkeit ab. Weil ihnen niemand mehr eine Wohnung vermieten will. Krankheitsfälle, Trennungen, Jobverlust und andere Schicksalsschläge spielten auch oft eine Rolle. Es ist schnell passiert, wie die Geschichte von Julian* zeigt, den Matthias Drilling innerhalb der Studie kennengelernt hat.
Manche Obdachlose würden sich ihre eigene Situation nicht eingestehen.
*Namen geändert.
chicadeltren
Wurstgesicht
tzhkuda7
Dachte einem müsse vom Kanton eine Einzimmerwohnung gestellt werden, wenn man von der Sozialhilfe die Wohnung nicht bezahlen kann.