Die Energiekrise liegt im Sommer scheinbar weit weg. Doch die Vorbereitungen für den Winter laufen. Bei den Stauseen spielt sich in diesen Wochen gerade Bemerkenswertes ab.
Die Stauseen sind die Batterie der Schweiz für den Winter. Mit dem zurückgehaltenen Wasser könnte das Land genug Strom produzieren, selbst wenn die so wichtigen Stromimporte einige Wochen lang ausblieben. Aktuell sind die Seen zu rund 79 Prozent gefüllt. Die Pegel liegen damit unter dem langjährigen Durchschnitt von 81 Prozent. Das ist erstaunlich, waren doch die Speicherstände Anfang Jahr rekordhoch. Was ist passiert?
Die Füllstände der Stauseen steigen seit Juni langsamer als zu dieser Jahreszeit üblich - trotz des verbreitet nassen Julis. Das zeigen Daten des Bundesamts für Energie. Das dürfte damit zusammenhängen, dass die Speicherkraftwerke von Mai bis Juli relativ viel Strom produzierten, wie aus einer Zahlenreihe der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid hervorgeht. Der Strom dürfte zu einem guten Teil ins Ausland geflossen sein; der Exportüberschuss war im Juni und Juli grösser als üblich.
Dabei wäre die Ausgangslage für vollere Speicherseen aussichtsreich gewesen: Bis im Februar waren die Seen so voll wie kaum einmal in den letzten 50 Jahren. Im viel zu milden Winter wurde weniger Strom als üblich benötigt, was die Seen schonte. Die Wasserreserve für den äussersten Notfall blieb unangetastet. Der Bundesrat hatte sie gewissermassen als Versicherung einrichten lassen - und zahlte dafür 300 Millionen Franken an die Stromkonzerne. Diese Kosten gehen zulasten aller, die Strom verbrauchen.
Doch die Notreserve wurde am 15. Mai 2023 formell aufgelöst. Danach konnten die Kraftwerksbetreiber frei darüber verfügen. Dass die Füllstände aktuell nur leicht höher sind als letztes Jahr, lässt darauf schliessen, dass sie genau das getan haben. Darob herrscht in Bundesbern Unmut. «Das Polster wurde in den letzten zwei Monaten verkauft, das muss man festhalten», sagt der Grünen-Nationalrat Bastien Girod.
Die Kraftwerksbetreiber begründen ihr Vorgehen mit dem Hochwasserschutz. Ein Axpo-Sprecher teilt mit: Die Speicher müssten bei Regen auch in den nächsten Monaten noch Wasser aufnehmen können, um das allfällige Überlaufen der Flüsse im Kraftwerksgebiet zu verhindern. Ausserdem könne man Zuflüsse auf der untersten Kraftwerksstufe in der Regel gar nicht speichern, sondern müsse sie direkt verarbeiten.
Ähnlich tönt es bei Alpiq: Im Sommer sei etwas mehr Strom produziert worden, um Platz für das Sommerwasser zu schaffen. Eine Sprecherin des Energiekonzerns ist aber optimistisch: «Die Speicherseen werden für den Winteranfang aller Voraussicht nach sehr gut gefüllt sein.»
Girod kontert, da werde der Hochwasserschutz vorgeschoben, obwohl es vor allem wirtschaftliche Gründe seien. Die Betreiber seien daran interessiert, alles Wasser zu turbinieren - und damit Geld zu machen. Wäre die Notreserve jetzt aber noch in den Seen und käme ein regenreicher Herbst, könnte es passieren, dass sie Wasser im Überlauf - also ohne es zu turbinieren - Richtung Tal schicken müssten. Darum hätten sie die Turbinen im Sommer laufen lassen. «Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Versorgungssicherheit und ökonomischen Interessen», sagt Girod.
Die Gründe könnten tatsächlich geschäftlicher Natur sein, wie ein Experte sagt. René Baggenstos, Geschäftsführer des Energietreuhänders Enerprice, vermutet, dass viele Produzenten im letzten Jahr Strom zu hohen Preisen für dieses und nächstes Jahr verkauften. Die Marktpreise waren 2022 regelrecht explodiert. Von daher sei die Produktion im Juli wohl zu einem guten Teil eine geplante Produktion für den Terminmarkt gewesen.
Für kommenden Winter bezahlt Swissgrid die Stromkonzerne wiederum dafür, eine Reserve vorzuhalten. Dank der tieferen Marktkosten hat das die Stromkonsumenten bislang umgerechnet 50 Millionen Franken gekostet. Girod taxiert dieses System als problematisch; den Betreibern fehlten die Anreize, selber eine ausreichende Reserve zu bilden.
Für besser gefüllte Speicherseen setzt sich Mitte-Nationalrätin Marianne Binder ein. In einem Vorstoss verlangt sie vom Bundesrat einen Bericht darüber, wie die Seen auf den Beginn des Winterhalbjahrs zuverlässiger gefüllt werden könnten. Das Energiepotenzial von vollen Seen sei gross. «Es wäre einfach zu nutzen, was aber einen haushälterischen Umgang mit der wertvollen eigenen Ressource bedingt», sagt Binder. Die Abstimmung über den Vorstoss steht noch aus. Der Bundesrat lehnt ihn ab.
National- und Ständerat zimmern derzeit eine gesetzliche Grundlage für die Energiereserve. Die Energiekommission des Nationalrats will die Betreiber der Speicherkraftwerke verpflichten, sich an der Reserve zu beteiligen.
Immerhin: Das Risiko einer Energieknappheit ist laut Werner Luginbühl, Präsident der Elektrizitätskommission (Elcom), geringer als vor einem Jahr. Die Gefahr ist aber nicht gebannt, wie er den «Tamedia»-Zeitungensagte: «Eine Mangellage ist wieder möglich.» Probleme könne es etwa geben, wenn der Winter überaus kalt ausfiele.
Die Elcom überwacht die Stromversorgungssicherheit in der Schweiz. Eine Sprecherin nimmt die Betreiber in Schutz. Sie verweist auf Konzessions-Auflagen, die einzuhalten sind, etwa Pegel-Obergrenzen. Weiter sei es selbstverständlich, dass die Betreiber ihre Produktion an den Marktbedingungen optimierten. Aus Sicht der Versorgungssicherheit sei das nicht generell nachteilig. Die Betreiber würden ausreichend Speicherinhalt für Zeiten möglicher Knappheiten vorhalten, weil dann hohe Preise zu erwarten seien. Die Wasserkraftreserve sei zusätzlich geschaffen worden, um unerwartete Knappheiten zu verhindern.
Wären die Speicherseen komplett gefüllt, enthielten sie Wasser für rund neun Terawattstunden Strom. Das entspricht etwa einem Sechstel des Schweizer Stromverbrauchs eines Jahres. Die Hundert-Prozent-Marke ist aber praktisch unerreichbar, weil nicht alle Seen gleichzeitig zu ihrem Maximalwert gelangen. (aargauerzeitung.ch)